Freistetters Formelwelt: Das Happy End der Mathematik
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»Es war einmal eine Mathematikerin aus Ungarn, und die hieß Esther Klein«: So könnte ein mathematisches Märchen anfangen, in dem es um diese Formel geht:
Wenn wir die Formel verstehen wollen, müssen wir noch ein wenig bei der jungen Esther Klein bleiben. Sie studierte Physik in Budapest, war aber eigentlich mehr an der Mathematik interessiert. Zu ihrem Freundeskreis gehörte damals unter anderem der später weltberühmt gewordene Paul Erdős. Esther jedenfalls stellte die Vermutung auf, dass man bei fünf Punkten, die sich in einer Ebene befinden, immer vier Punkte finden kann, aus denen sich ein konvexes Viereck bilden lässt. (Dabei dürfen keine drei Punkte auf einer Linie liegen.) Man kann sich mit Stift und Papier leicht von der Plausibilität von Kleins Vermutung überzeugen, die später auch bewiesen wurde.
Klein machte sich weitere Gedanken zu diesem Problem. Sie fragte sich, wie viele Punkte man mindestens braucht, um garantieren zu können, dass jede Anordnung eine Menge an n Punkten enthält, aus denen man ein konvexes n-Eck bilden kann. Dieses Problem interessierte Paul Erdős und auch dessen Freund George Szekeres, der eigentlich Chemie studierte, später jedoch zur Mathematik wechselte.
Für kleine Werte von n ist das Problem leicht zu lösen. Wenn n = 1 oder n = 2 ist, macht die Angelegenheit sowieso keinen Sinn. Bei drei Punkten ist es trivial zu sehen, dass sie immer ein konvexes Dreieck bilden, sofern sie nicht auf einer Geraden liegen. Die minimale Anzahl an Punkten, die man braucht, um sicherzustellen, dass jede Anordnung mindestens ein Dreieck enthält, ist also gleich 3. Genau das kann man auch aus der eingangs erwähnten Formel ablesen: ES(3) = 3.
Bis heute ein Rätsel
Die Buchstaben E und S stehen dabei für die Namen von Erdős und Szekeres, die sie bei ihrer gemeinsamen Arbeit aufgestellt haben. Die beiden konnten auch zeigen, dass tatsächlich mindestens fünf Punkte nötig sind, wenn man die Existenz eines konvexen Vierecks sicherstellen will – so wie es Esther Klein ursprünglich vermutet hatte. Außerdem fanden sie heraus, dass mindestens neun Punkte vorhanden sein müssen, wenn man ein konvexes Fünfeck haben will, und 17 Punkte die Existenz eines konvexen Sechsecks garantieren. Basierend auf diesen Ergebnissen stellten sie die obige Formel auf, die Erdős-Szekeres-Vermutung genannt wird. Für den allgemeinen Fall ist sie bis jetzt lediglich eine unbewiesene Vermutung. Der Wert von ES(n) für n größer als 6 ist unbekannt.
Kein Happy End also, was das angeht; dennoch ist das ursprüngliche Problem von Esther Klein heute in der Welt der Mathematik als »happy ending problem« bekannt. Denn bei der Arbeit mit Erdős und Szekeres kamen sich Esther und George näher und heirateten im Jahr 1937. Paul Erdős, immer für einen Scherz zu haben, taufte die liebesstiftende mathematische Frage daraufhin entsprechend.
Esther und George Szekeres mussten allerdings bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fliehen, zuerst nach Schanghai und später nach Australien. Beide fanden Stellen an Universitäten in Sydney und engagierten sich auch bei der Vermittlung von Wissen an Jugendliche. George organisierte Wissenschaftswettbewerbe für Schulen, Esther hielt Förderkurse für hochbegabte Schülerinnen und Schüler ab. Sie hatten zwei Kinder und blieben ihr ganzes Leben verheiratet. Es war ein langes Leben: George wurde 94 Jahre alt, Esther war zum Zeitpunkt ihres Todes 95. Aber beide starben am selben Tag, dem 28. August 2005, im Abstand von nur einer Stunde. Man kann davon ausgehen, dass sie tatsächlich »glücklich bis ans Ende ihrer Tage« gelebt haben.
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