Freistetters Formelwelt: Unser Universum könnte völlig anders sein als bisher angenommen
Vor mehr als 300 Jahren stellte Isaac Newton sein Prinzip der »universellen Gravitation« auf. Aus damaliger Sicht war das eine Revolution: Newton postulierte, dass die mathematischen Gesetze, mit denen sich die Bewegung von Objekten auf der Erde beschreiben lassen, auch die Bewegung von anderen Planeten, Kometen und so weiter beschreiben. Egal, ob ein Apfel zu Boden fällt oder sich der Mond um die Erde bewegt: Das grundlegende physikalische Prinzip und seine mathematische Beschreibung sind identisch. Oder anders gesagt, es gibt Naturgesetze, die im gesamten Universum gelten.
In der modernen Wissenschaft haben wir diese Annahme in Form des kosmologischen Prinzips zusammengefasst. Das Universum ist homogen und isotrop. Es ist egal, wo wir uns im All befinden und in welche Richtung wir schauen. Auf großen Skalen spielt es keine Rolle, denn der Kosmos ist überall mehr oder weniger gleich. Auf dieser These beruht, etwas vereinfacht gesagt, auch das Standardmodell der Kosmologie. Aber in den letzten Jahren gab es immer mehr Hinweise auf Probleme. Eines davon lässt sich durch diese Formel illustrieren:
Es geht dabei um die »kinematic cosmic dipole tension« und um die kosmische Hintergrundstrahlung – also die Strahlung, die etwa 400 000 Jahre nach dem Urknall entstanden ist und sich damals von jedem Punkt des Universums in alle Richtungen ausgebreitet hat. Darum können wir sie auch heute noch beobachten, und sie erreicht uns von jedem Punkt des Himmels mit derselben Energie (es gibt kleine Variationen, doch die spielen für dieses Thema keine Rolle).
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In der Praxis beobachten wir allerdings eine deutliche Anisotropie, die auf die Bewegung der Erde zurückzuführen ist. Das Sonnensystem bewegt sich in Bezug auf die kosmische Hintergrundstrahlung mit einer Geschwindigkeit von 369,82 Kilometern pro Sekunde. Dadurch sehen wir in der einen Richtung eine etwas erhöhte Temperatur der Hintergrundstrahlung; in der anderen Richtung ist die Temperatur ein bisschen niedriger als erwartet. Das steht nicht in Widerspruch zum kosmologischen Prinzip. Vielmehr ist es ein Beleg für die Isotropie des Universums.
Wir sollten darüber hinaus allerdings auch eine Anisotropie beobachten, wenn wir die über den Himmel verteilten Quasare untersuchen. Auch hier müsste es, analog zur Hintergrundstrahlung, eine durch die Bewegung des Sonnensystems verursachte Dipolanisotropie geben, deren Amplitude durch die obige Formel beschrieben wird, die unter anderem von der Relativgeschwindigkeit vo = 369,82 Kilometer pro Sekunde abhängt.
Widersprüchliche Messungen
Beide Anisotropien (in der Temperatur der Hintergrundstrahlung und in der Verteilung der Quasare) hängen zusammen. Messungen in den letzten Jahren zeigen aber, dass sie nicht so übereinstimmen, wie sie es sollten, wenn das kosmologische Prinzip tatsächlich gilt. Dieses Phänomen wird unter dem Begriff »kinematic cosmic dipole tension« zusammengefasst und reiht sich neben andere Probleme wie die »Hubble tension« ein. Letzterer, schon länger bekannte Konflikt beschreibt die unterschiedlichen Werte, die man für die Hubble-Konstante erhält, je nachdem, ob man Daten aus dem frühen oder dem späten Universum heranzieht. Zudem wurden Anfang des Jahres 2024 auch Strukturen aus Galaxien entdeckt, die so groß sind, dass sie ebenfalls das kosmologische Prinzip zu verletzen scheinen.
Das Standardmodell der Kosmologie ist ein höchst erfolgreiches wissenschaftliches Modell. Es ist durchaus möglich, dass es eine »einfache« Lösung für die Beobachtungen gibt, die dem kosmologischen Prinzip zu widersprechen scheinen. Es aufzugeben, wäre eine dramatische Wendung in der Wissenschaft: Wir müssten völlig andere Methoden entwickeln, um so ein Universum verstehen zu können.
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