Sex matters: Was ist »richtiger« Sex?
»Meine Frau und ich sind seit mehr als zehn Jahren zusammen. Seit einiger Zeit läuft es mit unserem Sexleben nicht so gut. Wir kommen nicht über das Vorspiel hinaus. Wir fangen an – und kommen nicht weiter, also nicht bis zum eigentlichen Geschlechtsverkehr. Ab und zu kommt einer von uns beim Vorspiel, und dann ist es halt vorbei. Wir haben das Gefühl, dass wir gar keinen richtigen Sex haben. Deshalb sind wir beide irgendwie unzufrieden.« (Robin*, 31, und Samira*, 32)
Moment mal. Vorspiel ist kein »richtiger« Sex? Aber was soll es sonst sein? Eine wissenschaftliche Definition lautet: Vorspiel sei »eine Reihe von emotional und körperlich intimen Handlungen, die darauf abzielen, sexuelle Erregung und das Verlangen nach sexueller Aktivität hervorzurufen«. Dazu zählen erregende Gedanken und Worte, körperliche Handlungen wie Küssen, Berührungen und Oralsex … also alle möglichen Aspekte von Sex!
Fest steht: Vorspiel kann alles Mögliche sein. Warum muss es auf irgendetwas abzielen? Um das herauszufinden, habe ich mit Samira und Robin darüber gesprochen, wann sie körperliche Nähe erleben und was genau dabei passiert.
Zwei-, dreimal die Woche komme es zu lustvollen Zärtlichkeiten, berichteten die beiden. Das finde ich ziemlich häufig. Sie würden sich streicheln, liebkosen, wären erregt; Vorspiel halt. Und dann käme mal er, mal sie. Aber sobald einer einen Orgasmus hatte, wäre es vorbei, dieses lustvolle Miteinander.
Interessant fand ich, dass beide ihre Sexualität als lustvoll empfanden, regelmäßig Orgasmen hatten und dennoch unzufrieden waren. Was genau fehlte ihnen? Die Antwort war sehr konkret und lautete: die Penetration. Das Gefühl von: Penis in Vagina. Denn nur das sei schließlich »richtiger Sex«.
Traditionelle Definitionen schränken ein
Die vaginale Penetration als großartiger »Hauptgang« und das Vorspiel als kleiner »Starter«: Diese Definition ist sehr verbreitet. Ich finde: zu Unrecht. Denn das schränkt das sexuelle Erlebnis stark ein.
Stellen Sie sich mal vor, Sie gehen beim Italiener essen. Sie haben richtig Appetit und bestellen eine köstliche Vorspeise, zum Beispiel eine Minestrone. Vielleicht ist die so köstlich, dass Sie eine zweite Portion wollen und den Hauptgang weglassen? Wie absurd wäre es, wenn Sie bei jedem Löffel denken würden: »Na ja, diese Suppe ist ja kein richtiges Essen«, nur weil in Ihrem Kopf der Hauptgang als Hauptsache definiert ist.
- Die Kolumne »Sex matters«
Was ist guter Sex? Was hält mich davon ab? Und wie schaffe ich es, meine Vorstellungen umzusetzen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller in dieser Kolumne (hier in Bild und Ton). Seit 2013 berät er in seiner Duisburger Praxis zu Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft. Auch Sie möchten ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: Liebe@spektrum.de
- Wer kann weiterhelfen?
Die Kolumne soll dazu anregen, über eigene Bedürfnisse und Grenzen nachzudenken. Sie ersetzt weder eine ärztliche Beratung noch das persönliche Gespräch mit einem Therapeuten. Wenn man allein nicht weiterweiß, kann es helfen, mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Therapie- und Beratungsangebote – hier eine Auswahl:
Eine Übersicht über Beratungsstellen geben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Organisation pro familia. Mit Sextra bieten Teams von pro familia Beratung per Onlineformular und Mail. Therapeutenlisten – geordnet nach Name oder Postleitzahl – führen etwa die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft sowie das Institut für Sexualtherapie. Jugendliche finden Hilfe auf sexundso.de.
Zurück zu Samira und Robin und unserer zweiten Sitzung. Was brauchten die beiden, um beim Sex glücklich zu sein? Einstimmige Antwort: Nähe, Gespräche, Orgasmen. Super, dachte ich – das waren alles Dinge, die sie miteinander erlebten. Lediglich die Vorstellung davon, wie Sex zu sein habe, beeinträchtigte sie. Was also tun, um eine andere Sicht auf ihre Sexualität zu finden?
Es gibt bei mir in der Praxis vier Stühle, die einander gegenüberstehen. Ich bin aufgestanden und habe Samira und Robin gebeten, mit mir die Plätze zu tauschen. Um meine Perspektive einzunehmen. »Stellen Sie sich vor, Sie wären die Therapeuten. Sie haben gerade aufmerksam zugehört. Was würden Sie diesen beiden Menschen sagen?« Es folgte ein kurzes Zwiegespräch. Und eine hoffnungsvolle Antwort: dass dieses Paar ja mehr hätte als viele andere Menschen!
Losgelöst von Normen und Erwartungen
Ich erlebe immer wieder, dass es Paare erleichtert, wenn sie sich von traditionellen Normen und Vorstellungen lösen. Und stattdessen schauen, was ihre individuelle Sexualität ausmacht. Sobald die Erwartungen beiseitebleiben, beurteilen Menschen ihr Sexualleben positiver. Auf einmal wird deutlich, wie köstlich jede Speise sein kann, wenn es nicht darum geht, Gerichte in Rubriken zu pressen und in vorschriftsmäßiger Reihenfolge zu essen.
Bei Samira und Robin ließ die Unzufriedenheit sofort nach, als die beiden erkannten: Das, was wir Vorspiel genannt haben, ist einfach Sex. Sogar so guter Sex, dass wir beide die Köpfe komplett ausschalten und uns fallen lassen können. So lustvoll, dass es zum Orgasmus kommen kann.
Nach dieser Erkenntnis haben wir gemeinsam abgewogen, wie wichtig die Penetration ist. Was genau war der Mehrwert von »Penis in Vagina«? Es blieb nicht viel übrig. Außer dem Gefühl von einer Vagina, die den Penis umschließt, und dem Penis, der ein warmes Gefühl in einer feuchten Vagina empfindet.
Aber warum hatten Samira und Robin nach ihren Orgasmen nicht einfach weitergemacht? In der Sitzung bei mir haben die beiden besprochen, was genau der Grund dafür war. Sie waren der Meinung: Beim Vorspiel kommt »man« nicht. Und wenn’s doch passiert war, dann empfanden das beide wie einen Schlusspunkt.
Wenn eine Person gekommen ist und die andere weitermachen möchte – wie kann ein Paar damit umgehen? Der erste Schritt: verbal oder körperlich kommunizieren. Hey, lass uns weitermachen! Der zweite Schritt: Möglichkeiten ausprobieren, nach einem Orgasmus zusammen wieder Lust zu bekommen. Durch Kuscheln zum Beispiel, durch gemeinsames Duschen oder durch zärtliches Küssen.
Samira und Robin haben sich nach drei Sitzungen von mir verabschiedet. Mit zufriedenen Gesichtern und hilfreichen Erkenntnissen: Sex sei viel mehr als ein Penis in einer Vagina. Und wie schön, nach zehn gemeinsamen Jahren noch intensiven Sex miteinander zu haben! Den Begriff »Vorspiel« wollten sie aus ihrem Wortschatz streichen.
Und nun sind Sie dran: Was ist Ihre Definition von Sex?
Überlegen Sie selbst und fragen Sie mindestens zwei weitere Menschen. Eine einheitliche Definition werden Sie wahrscheinlich nicht finden, sondern ganz unterschiedliche Ansichten zu hören bekommen. Schauen Sie bei dieser Übung: Was sagen andere – und wie möchte ich Sex für mich selbst definieren?
* Namen von der Redaktion geändert
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