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Freistetters Formelwelt: Das wichtigste Stück Obst der Physikgeschichte

Die Gravitationskraft großer Planeten kann die kleinen Himmelskörper des Sonnensystems gehörig durcheinanderbringen. Aber dank Isaac Newton und vor allem dank seiner vielen Nachfolger haben wir eine Möglichkeit gefunden, Ordnung in das Chaos zu bringen.
Der Apfel fiel nicht weit vom Stamm

Es gibt viele Geschichten darüber, wie Isaac Newtons berühmte Formel zu Berechnung der Gravitationskraft entstand: die Geschichte vom fallenden Apfel, der ihn inspirierte; die Erzählung von der Wette im Kaffeehaus, die Newton mit seiner Mathematik auflösen sollte; oder die von den Fragen des königlichen Astronomen über die Bewegung von Kometen. Wie genau Newton auf seine geniale Theorie gekommen ist, lässt sich historisch nicht mehr eindeutig nachvollziehen. Zu viele Legenden haben sich schon zu seinen Lebzeiten gebildet. Aber zumindest die Kometen haben später eine wichtige Rolle bei einem der ersten großen Triumphe von Newtons Gravitationsformel gespielt.

1705 veröffentlichte Edmond Halley eine Arbeit, in der er mit Newtons Formel nachweisen konnte, dass ein 1682 beobachteter Komet identisch mit kosmischen Brocken war, die schon 1531 und 1607 beobachtet wurden. Für die damalige Zeit war das eine sensationelle Erkenntnis. Kometen waren notorisch unvorhersagbar; sie tauchten ohne Vorwarnung am Himmel auf und verschwanden ebenso plötzlich wieder. Erst Newtons Formel zeigte, dass auch die seltsamen Himmelskörper ganz konkreten Gesetzen folgten – Gesetze, die es Halley ermöglichten, die Rückkehr des Kometen für das Jahr 1758 vorherzusagen. Damit hatte er völlig Recht, und daher trägt der Himmelskörper heute seinen Namen: Halleyscher Komet.

Das Problem, das die Identifikation von Kometen damals so schwierig machte, beschäftigt die Wissenschaftler immer noch. Kommt ein Komet einem der großen Planeten nahe, dann ändert sich durch die gravitativen Störungen seine Bahn. Nach so einer Begegnung kann sich der Komet auf einer ganz anderen Bahn befinden als vorher. Wenn man alte Beobachtungen untersucht: Woher soll man wissen, welche den gleichen Himmelskörper beschreiben?

Eine Antwort darauf fand gegen Ende des 19. Jahrhunderts der französische Astronom François Félix Tisserand. Er entdeckte den nach ihm benannten "Tisserandparameter":

Tisserandparameter

In einem vereinfachten Dreikörperproblem ist der Tisserandparameter Tp näherungsweise eine Erhaltungsgröße, so wie zum Beispiel die Gesamtenergie. Betrachtet man die Bahn eines Kometen (in der Formel gegeben durch die große Halbachse der Bahnellipse a, die Neigung der Eklipse i und ihre Exzentrizität e) und die Bahn eines großen Planeten (gegeben durch dessen große Halbachse ap), dann ist der Tisserandparameter vor und nach der Begegnung des Kometen mit dem Planeten annähernd identisch, auch wenn die Bahn selbst vielleicht ganz anders aussieht.

So konnte man ohne langwierige Bahnberechnungen entscheiden, ob unterschiedliche Beobachtungen dem gleichen Kometen zuzuordnen sind oder nicht. Das Problem hat man dank der schnellen Computer heute nicht mehr; der Tisserandparameter wird aber trotzdem noch verwendet. Mit ihm kann man zum Beispiel Asteroiden und Kometen klassifizieren. Kometen der so genannten "Jupiter-Familie", deren Bahnen alle von der Gravitationskraft des Jupiters beeinflusst worden sind, haben einen ähnlichen Tisserandparameter, der sich von dem anderer Kleinkörper unterscheidet. Und auch Mathematiker müssen den Tisserandparameter berücksichtigen, wenn sie die Flugbahnen von Raumsonden berechnen wollen, die sich mit einem Swing-by-Manöver Schwung durch die Gravitationskraft eines anderen Planeten holen: Sie können nach dem nahen Vorbeiflug an einem Planeten keine beliebigen Bahnen einnehmen, sondern nur solche, die den Wert des Tisserandparameters unverändert lassen.

Die Geschichte von Newtons fallendem Apfel mag nur ein Mythos sein. Doch sollte sie tatsächlich stimmen, dann war dieser Apfel vermutlich das wichtigste Stück Obst der Menschheitsgeschichte. Es inspiriert Wissenschaftler seit mehr als 350 Jahren zu immer neuen Erkenntnissen über das Universum.

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