Kolumnen: Den Tod im Nacken
"Mors certa, hora incerta". Der Tod ist uns gewiss, nur seine Stunde nicht. Er sitzt uns stets im Nacken.
Aber erst mal müssen wir die Schrecken des Todes inszenieren, bevor wir uns heiter über sie hinwegsetzen. Haben Sie schon mal eine tote Kuh gesehen? Hier sind gleich zwei:
Gut, Sie mögen meine Seele verzärtelt schimpfen, aber mir wurde der Kopf beim Anblick von derlei Dingen schwer. Und ich stützte meinen Kopf mit beiden Händen, wie Crumbs Kiffer, und wollte in Wehmut zerfließen. Bis ich mich eines Tages gezwungen sah, die Anatomie der Halswirbelsäule en detail zu bimsen, weil ich der versammelten Studentenschaft in der Humanmedizin ebendiese Anatomie erklären sollte. "Docendo discimus", lehrend lernen wir. Und von der Halswirbelsäule will ich jetzt auch zu Ihnen reden, und dann werden wir sehen, dass uns der Tod gar nicht im Nacken sitzt. Alles gar kein Drama. Alles nur Anatomie.
Und die geht so:
Wohl aber bei den Tieren, zumal bei denen auf allen vieren! Wir balancieren unsere Köpfe auf der Wirbelsäule, die aber tragen sie am Vorderende der Wirbelsäule vor sich her. So ein Kopf ist schwer – und die Kühe, die Pferde, sie litten wohl Dauernackenmuskelkater, hätten sie nicht ein Nackenband, das das unsere in den Schatten stellt. In der Abbildung habe ich es farbig hervorgehoben. Das Nackenband spannt sich, wie Sie sehen, viel weiter nach hinten als bei uns, bis an die hoch aufragenden Dornfortsätze der Brustwirbelkörper zwischen den Schulterblättern, die man den Widerrist nennt.
Naja, und damit wissen Sie eigentlich auch schon alles. Das Pferd oder die Kuh fallen tot um, die Muskeln funktionieren nicht mehr, vermodern auch schneller als das stabile Gummiband im Nacken, und das zieht dann "post mortem" die Hälse krumm. Ganz undramatisch. Bei Vögeln ist's genauso.
Trotzdem – die Pose, diese Pose! Den Kopf im Nacken ... ich beschließe diesen Text mal mit einem Ölbild, das ich Lorenz Grieder, einem Basler Künstler, den ich sehr schätze, abgekauft habe. Es hängt bei mir im Büro, grad' an der Wand gegenüber. Ich guck' oft drauf.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Ein Mensch, in tiefen, melancholischen Gedanken – oder einer, der vorgibt, in solchen zu sein –, neigt den schweren Kopf und stützt ihn auf die Hand. Ja, manchmal stützt er ihn gar mit beiden Händen, kann aber dennoch der Verflüssigung in schwerblütigen Trübsinn keinen Einhalt gebieten:
Ich bin aber nicht stoned. Ich find' nur Robert Crumb genial. Und eigentlich ist das sogar ein heiterer "Winkel", der mit Hilfe der Anatomie dem Tod ein wenig von seinem Schrecken nehmen will. Nun ja: nicht dem Tod selbst. Aber einigen Bildern von ihm.
Aber erst mal müssen wir die Schrecken des Todes inszenieren, bevor wir uns heiter über sie hinwegsetzen. Haben Sie schon mal eine tote Kuh gesehen? Hier sind gleich zwei:
Also ich fand das immer ziemlich grauslig. Nicht, dass ich mich vor Kadavern ekeln würde, nein. Es waren diese aberwitzig überrissenen Hälse, diese in den Nacken geworfenen Köpfe, die mich schreckten. Als ob der Tod den Tieren in den Nacken gesprungen wäre, die Köpfe nach hinten gerissen hätte, wie ein Raubtier, um dann die schutzlosen Kehlen zu durchbeißen. Eine Pose, wie ein letzter Schrei, mit zurückgeworfenem Kopf. Mir grauste es. Und es wurde nicht besser, als ich anfing, mich für Biologie und Fossilien zu interessieren. Da, zum Beispiel, ist der berühmte Archaeopterix:
Ist das nicht grausam? Dieser zerbogene Hals, die Schreckenspose des letzten Lebensmomentes, der auf Jahrmillionen hin im Solnhofener Schiefer eingesteinerte Todesschrei des kleinen Sauriers?
Gut, Sie mögen meine Seele verzärtelt schimpfen, aber mir wurde der Kopf beim Anblick von derlei Dingen schwer. Und ich stützte meinen Kopf mit beiden Händen, wie Crumbs Kiffer, und wollte in Wehmut zerfließen. Bis ich mich eines Tages gezwungen sah, die Anatomie der Halswirbelsäule en detail zu bimsen, weil ich der versammelten Studentenschaft in der Humanmedizin ebendiese Anatomie erklären sollte. "Docendo discimus", lehrend lernen wir. Und von der Halswirbelsäule will ich jetzt auch zu Ihnen reden, und dann werden wir sehen, dass uns der Tod gar nicht im Nacken sitzt. Alles gar kein Drama. Alles nur Anatomie.
Und die geht so:
Das ist eine Halswirbelsäule von einem Menschen, schräg von vorne gezeichnet. Sehen Sie die gespaltenen Dornfortsätze (Pfeil), die nach hinten weisen? In den v-förmigen Spalten ist das Nackenband verankert, dessen ganze Ausdehnung Sie in der Abbildung nebendran ermessen können. Es spannt sich vom Hinterhaupt bis hinab zum Dornfortsatz des letzten Halswirbels wie ein derbes Segel, wie eine Faserplatte, die genau in der Medianebene über den Dornfortsätzen aufgestellt ist. Weswegen Sie im Übrigen die Dornfortsätze der Halswirbelsäule – anders als die aller anderen Wirbel – nicht tasten können. Das Band steht drüber. Erst des siebten (und letzten) Halswirbels Dornfortsatz ist wieder sicht- und tastbar. Man nennt ihn, eben weil er sich so neckisch vorwölbt, die "Vertebra prominens", den "vorstehenden Wirbel".
Wenn wir den Kopf neigen, spannt sich dieses Nackenband. Aber es hält den Kopf nicht wirklich, schränkt seine Neigung nicht ein – denn wir können das Kinn bis aufs Brustbein fallen lassen. Wenn wir's nicht vorher mit den Händen abstützen. Die Anatomen nennen das eine "Knochenhemmung" – der Bewegungsumfang wird eingeschränkt, weil zwei Knochen aneinanderstoßen. Das Nackenband spielt also bei uns keine große mechanische Rolle.
Wohl aber bei den Tieren, zumal bei denen auf allen vieren! Wir balancieren unsere Köpfe auf der Wirbelsäule, die aber tragen sie am Vorderende der Wirbelsäule vor sich her. So ein Kopf ist schwer – und die Kühe, die Pferde, sie litten wohl Dauernackenmuskelkater, hätten sie nicht ein Nackenband, das das unsere in den Schatten stellt. In der Abbildung habe ich es farbig hervorgehoben. Das Nackenband spannt sich, wie Sie sehen, viel weiter nach hinten als bei uns, bis an die hoch aufragenden Dornfortsätze der Brustwirbelkörper zwischen den Schulterblättern, die man den Widerrist nennt.
Und das Band trägt tatsächlich den Kopf, denn es besteht – anders als bei uns – aus elastischem Bindegewebe, das die Eigenschaft eines Gummizugs hat: Es ist dehnbar und entwickelt dabei beträchtliche Rückstellkräfte. Mit anderen Worten: Das Pferd, die Kuh müssen gar nichts tun, um den Kopf oben zu halten. Ganz im Gegenteil! Wollen sie grasen, wollen sie das Maul zu Boden bringen, müssen sie die Muskeln auf der Vorderseite des Halses anspannen – gegen den Zug des Nackenbandes.
Naja, und damit wissen Sie eigentlich auch schon alles. Das Pferd oder die Kuh fallen tot um, die Muskeln funktionieren nicht mehr, vermodern auch schneller als das stabile Gummiband im Nacken, und das zieht dann "post mortem" die Hälse krumm. Ganz undramatisch. Bei Vögeln ist's genauso.
Trotzdem – die Pose, diese Pose! Den Kopf im Nacken ... ich beschließe diesen Text mal mit einem Ölbild, das ich Lorenz Grieder, einem Basler Künstler, den ich sehr schätze, abgekauft habe. Es hängt bei mir im Büro, grad' an der Wand gegenüber. Ich guck' oft drauf.
Er hat es "Table Dance" genannt. Hmm. Ist's die existenzielle Verzweiflung, die der Dame den Kopf in den Nacken zwingt, oder ist's die orgastische Verzückung? Komisch, wie nahe diese Posen beieinanderliegen.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
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