Koalitionsende: Wann ist ein Eid ein Eid?
Als am 6. November 2024 die Regierungskoalition zerbrach, maßgeblich am Konflikt zwischen dem Bundeskanzler und seinem Finanzminister, bezogen sich beide Protagonisten in ihren rechtfertigenden Äußerungen auf denselben Text: ihren Amtseid, wie er in Artikel 56 des Grundgesetzes festgelegt ist. Christian Lindner und Olaf Scholz sahen sich nach ihrer Darstellung durch dieselbe Formel – »meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden« – auf so diametral Unterschiedliches verpflichtet, dass es einen Bruch rechtfertigte, der zum Verlust der Regierungsmehrheit führte.
Nun ist ein Amtseid nach herrschender juristischer Meinung kein Eid im gerichtlichen Sinne. Er bezieht sich nicht auf die Wahrheit getätigter Aussagen und ist nicht strafbewehrt. Er begründet, um es mit dem Standardkommentar zum Grundgesetz von Dürig/Herzog/Scholz zu sagen, »weder Zuständigkeiten noch Rechte oder Pflichten« und wirkt »in keinem denkbaren Sinne konstitutiv«. Dies wurde etwa im Zuge der CDU-Parteispendenaffäre um die Jahrtausendwende im Zusammenhang mit Helmut Kohls Verletzungen seiner Amtseide thematisiert. So fragte »Spiegel Online« damals: »Mit einem Jahr Gefängnis muss rechnen, wer falsch schwört. Gilt das auch für Bundeskanzler und Minister?« Die Antwort lautet, was den Amtseid betrifft: Nein. Ihre Rechte und Pflichten haben Bundeskanzler und -minister unabhängig von ihrem Eid. In Österreich müssen Amtsträger konsequenterweise gar keinen Eid ablegen, sondern ein Gelöbnis tätigen (wie deutsche Wehrpflichtige), man spricht von Angelobung statt von Vereidigung. Doch bei welchem Namen man das Kind auch immer nennt: Es handelt sich faktisch um ein feierliches öffentliches Versprechen, sich an Pflichten zu halten – die man ohnehin hat.
Welchen Sinn kann das nun haben? Wo das Recht aufhört, fängt in solchen Angelegenheiten die Philosophie an, und in diesem Fall wird das bereits im zitierten Grundgesetzkommentar selbst sichtbar. Er stellt zum Artikel 56 abschließend fest, dass sich der Amtsträger mit dem Eid auf die eigenen höchsten Motive verpflichtet. Historisch spielten, dies erwähnen die Kommentatoren, hierbei oft religiöse Konzepte eine Rolle, da Gott als Quelle und Fokus von Geboten und Ordnungen angesehen wurde, die über allem Irdischen stehen. Daher auch die Beteuerungsformel »so wahr mir Gott helfe«, die allerdings freiwillig ist – weder Scholz noch Lindner sprachen sie. Heute kann man davon ausgehen, dass zumindest in Deutschland die allermeisten politisch Tätigen höhere Motivationen haben, die sie ohne religiösen Bezug begründen. Zitat: »Der Schwörende bindet seine Amtsführung so an sein innerstes Selbstverständnis und an den Kern seiner Persönlichkeit.«
»Wo das Recht aufhört, fängt in solchen Angelegenheiten die Philosophie an«
Diese Formulierungen drehen ein großes Rad, aber ein jeder kennt solche Situationen aus dem Alltag: Stellen Sie sich vor, Sie brechen zu einer längeren Autofahrt auf und lassen Ihre Familie für ein, zwei Tage zurück. Ihr Mann, Ihre Kinder, vielleicht eines davon mit Ihrer Katze oder Ihrem Dackel auf dem Arm, verabschieden Sie am Bordstein. Ihr Mann sagt »Fahr vorsichtig!« und Sie antworten »Ja, mach ich« und drücken ihm noch einen Kuss auf die Wange.
Die Verkehrsregeln gelten für Sie natürlich unabhängig davon, was Sie oder Ihr Mann dazu meinen. Auch Ihr Eigeninteresse, umsichtig zu fahren, um Ihr Leben, Ihre Gesundheit und Ihren Besitz nicht zu gefährden, besteht unabhängig davon. Und hoffentlich ist Ihnen klar, dass Ihr Schaden, wenn er eintritt, ebenso der Schaden Ihrer Angehörigen wäre. Vielleicht haben Sie, ebenfalls unabhängig von Ihrem Versprechen, eine abstrakte Vorstellung davon, was eine glückliche Familie ist, wozu es Familien überhaupt gibt und warum man anstreben sollte, dass sie glücklich sind. Auch diese Vorstellung kann religiös gefärbt sein: Wenn Sie traditionell katholisch sind, dann ist für Sie die Gründung einer Familie eine Mitwirkung an Gottes fortwährender Schöpfung. Auch hier vermute ich allerdings, dass die allermeisten Deutschen, die familiäres Glück als abstrakten Wert hochhalten, dabei keine theologischen Hintergedanken haben.
Ein mit Kuss besiegeltes Versprechen
Mit dem kleinen Versprechensritual vor dem Losfahren haben Sie all das noch einmal – im familiären Rahmen – öffentlich und feierlich (mit einem Kuss!) bekräftigt. Sie haben Ihrer Familie demonstriert, dass Sie ein bestimmtes Selbstverhältnis haben, das Sie zum Beispiel bei der Abwägung leiten könnte zwischen dem Vergnügen, sportlich kurvige Landstraßen durchs Mittelgebirge zu fahren, und den damit einhergehenden Risiken.
Natürlich ist das deutsche Volk keine Familie und der Begriff »Schaden vom Volk wenden« ist diskutabler und voraussetzungsreicher als »vorsichtig fahren«. Aber letztlich scheint mir der Amtseid mit dem Losfahr-Versprechen weitgehend vergleichbar.
Mit dem Rückgriff auf ihre Amtseide haben Scholz und Lindner also die Aussagen zu Inhalt und Tiefe ihrer Meinungsverschiedenheit mit einem Element des Feierlichen ausgestattet, um ihnen mehr Gewicht zu geben. Sie haben damit vor allem ihre eigene Integrität – definiert über das Verhältnis zwischen ihren Prinzipien und ihrem Handeln – beteuert. Daher ist es für mich auch – und das war mir, als ich diese Kolumne zu schreiben begann, noch gar nicht so klar – verständlich, dass beide diesen Rückgriff tätigen und dass dies nicht notwendigerweise etwas Verlogenes oder Theatralisches zu haben braucht, selbst wenn sich beide untereinander völlig uneinig sind.
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