Warkus' Welt: Der größte Fehler der Philosophie
Wenn Sie diese Kolumne häufiger lesen, mag Ihnen aufgefallen sein, dass ich eine recht bescheidene Position dazu vertrete, was Philosophie kann und soll. Letztlich finde ich, dass die größte Leistung, die sie erbringen kann, darin besteht, neue Unterscheidungen einzuführen, mit deren Hilfe Diskussionen außerhalb der Philosophie, quer durch alle Bereiche der Wissenschaft und des Alltags, besser und präziser geführt werden können. Philosophie produziert also im besten Fall Vokabeln, mit denen andere weit reichend etwas anfangen können – hochtrabend gesagt: Sie wirkt transdisziplinär begriffsbildend.
Anlässlich der 50. Ausgabe von »Warkus’ Welt« habe ich die Redaktion von »Spektrum.de« gefragt, was ein gutes Thema für dieses Jubiläum sein könnte. Eine Anregung war: Was sind eigentlich die größten Fehler, die die Philosophie in ihrer langen Geschichte so gemacht hat? Entsprechend meiner Meinung dazu, was Philosophie leistet, würde ich sagen: Die größten Fehler, die sie gemacht hat, sind begriffliche Unterscheidungen, die falsch und weit reichend wirkungsmächtig waren.
Aktuell wieder im Gespräch als einer der unheilvollsten Begriffe der abendländischen Geistesgeschichte ist der der »Menschenrasse« – bestenfalls veraltete wissenschaftliche Terminologie, schlimmstenfalls Vehikel für eine Ideologie, in der die Unterdrückung und Vernichtung bestimmter Menschengruppen offen beabsichtigt oder zumindest latent mitgeführt wird. Am 10. September 2019 wurde hier in Jena bei der Jahrestagung der Deutschen Zoologischen Gesellschaft eine Erklärung vorgestellt, die dazu noch einmal die biologischen Fakten auf den Punkt bringt und klarstellt, dass der Begriff der Menschenrasse ein Produkt rassistischen Denkens ist – und sich also nicht etwa rassistisches Denken auf eine vorher festgestellte Existenz unterschiedlicher Menschenrassen stützt.
Nun kann man fragen, wo hier die Beteiligung der Philosophie liegt. Zwar haben sich viele große Philosophen (zum Beispiel Immanuel Kant) rassistisch geäußert und sich am Zustandekommen rassistischer Begriffe stark beteiligt. Man könnte allerdings argumentieren, dass es sich hier um ein Agieren auf fremdem Terrain handelt, geht es doch um eine biologische beziehungsweise anthropologische Pseudounterscheidung und nicht um eine philosophische. Wenn ein etablierter Philosoph zum Beispiel Fragwürdiges zur theoretischen Physik oder Mathematik von sich gibt (auch das hat es gegeben, etwa im Zusammenhang mit antisemitischen Angriffen auf Albert Einsteins Arbeiten), spricht dies gegen ihn und seine Fähigkeit, seine Meinungsäußerungen auf das zu begrenzen, womit er sich auskennt – nicht zwangsläufig gegen sein ganzes Fach.
Die Philosophie als Komplizin
Die Philosophie wurde daher meines Erachtens erst dort wirklich Komplizin, wo sich renommierte Vertreter nicht nur hinter biologische Pseudounterscheidungen stellten, sondern auch behaupteten, diese seien philosophisch relevant. (Und zwar im modernen Sinne, der sich erst im frühen 19. Jahrhundert voll herausgebildet hat – vorher war die Trennung zwischen der Philosophie und den übrigen Wissenschaften noch nicht komplett vollzogen.) Oder aber dort, wo philosophische Unterscheidungen entstanden, die in den Dienst von rassistischem Denken genommen wurden, ohne dass sich der Philosophiebetrieb in seiner Breite dagegen wehrte. Ein gutes Beispiel ist sicher die durch den Sozialphilosophen Ferdinand Tönnies (1855–1936) auf den Punkt gebrachte Unterscheidung zwischen »Gemeinschaft« und »Gesellschaft«, die bis heute immer wieder in Stellung gebracht wird, um einen angeblichen Unterschied zwischen Formen menschlichen Zusammenlebens zu machen, die in irgendeiner Weise »wesenhaft«, instinktiv, traditionell (und am Ende vielleicht sogar biologisch?) begründet sind, und solchen, die es nicht sind. Genauso ist die in der Philosophie seit Jahrtausenden immer wieder propagierte Geringschätzung von Sprache und Medien gegenüber »unmittelbaren«, »ursprünglichen« Formen menschlicher Interaktion ein Werkzeug, das eingesetzt werden kann, um angeblichen urtümlichen biologischen Zusammenhalt aufzuwerten.
Natürlich haben sich Philosophen auch direkt schuldig gemacht, indem sie zum Beispiel versucht haben, die Ideologien totalitärer Staaten zu unterfüttern, oder tatkräftig an ihrer Durchsetzung in der Hochschule und im Kulturbetrieb mitgewirkt haben. Das prominenteste Beispiel ist wahrscheinlich Martin Heidegger, der sein Denken offen in den Dienst der Nationalsozialisten stellte. Historisch gesehen ist die passive Mitwirkung der Philosophie an der Rechtfertigung biologistisch begründeter Unterdrückung und Vernichtung von Menschengruppen sicher ihre größte Schuld. Es wäre aber unfair, nicht festzustellen, dass es innerhalb der abendländischen Philosophie immer auch Kritik an dieser Art von Komplizenschaft gegeben hat.
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