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Mäders Moralfragen: Der Kollaps kann noch kommen

Vor 50 Jahren waren Untergangsszenarien populär. Das Buch "Die Bevölkerungsbombe" gab der Menschheit sogar nur noch wenige Jahre Zeit. Doch über solche fehlgeschlagenen Prognosen sollte man nicht spotten.
Menschenmassen

Vor 50 Jahren rüttelte das US-amerikanische Ehepaar Anne und Paul Ehrlich ihre Landsleute auf: In ihrem Buch "The Population Bomb", das sich mehr als zwei Millionen Mal verkaufte, sagten sie den Kollaps binnen weniger Jahre voraus. Wie genau, ließen sie offen und präsentierten stattdessen drei Szenarien für die 1970er Jahre:

  • Im ersten Szenario wachsen die Spannungen in Asien, weil die Menschen hungern. Es gibt einfach nicht mehr genug, um eine stark wachsende Bevölkerung zu ernähren. Viele machen für den Mangel die USA verantwortlich. Die Amerikaner lassen sich in Asien in einen Krieg verwickeln – diesmal in Thailand – und entschließen sich dann zu einem atomaren Präventivschlag gegen China, um sich aus der Affäre zu ziehen. China schlägt zurück.
  • Im zweiten Szenario breitet sich der Kommunismus aus, und die Staaten gehen gemeinsam gegen die vermeintliche US-amerikanische Aggression vor. Selbst der Papst wirft den Amerikanern vor, "Fleisch zu essen, während die Hungernden dieser Welt kein Brot haben". Auch hier kommt es zum Atomkrieg.
  • Im dritten Szenario setzt die Welt hingegen auf Verhütungsmittel – sogar der Papst erklärt die Geburtenkontrolle zur moralischen Pflicht für alle Gläubigen. Die globale Hungersnot ist zwar nicht mehr abzuwenden und 500 Millionen Menschen sterben. Doch sie geht vorbei, und im 21. Jahrhundert wird ein stabiler Zustand mit weniger als zwei Milliarden Menschen erreicht, die auf der Erde gut leben können.

Man dürfe ruhig versuchen, ein optimistischeres Szenario zu entwerfen, schreiben Anne und Paul Ehrlich. Aber es dürfe nicht damit beginnen, dass Aliens auf der Erde landen und Carepakete verteilen. Heute schüttelt man darüber den Kopf: Haben die das wirklich ernst gemeint? Ja, das haben sie. Auch heute noch gibt Paul Ehrlich – im Alter von 85 Jahren – Interviews und hält Vorträge. Sein Fokus ist nun der Umweltschutz, doch seine Botschaft klingt immer noch gleich: Das Ende ist nah! Ist es okay, die Menschen aufzurütteln – gerade, wenn die bisherigen Prognosen danebengingen?

Die Propheten bleiben bei ihrer Prognose

Für das rechte Portal "Breitbart" ist die Sache klar: Die Ehrlichs haben sich blamiert. Aber auch die "New York Times" ist skeptisch: In der internationalen Politik gehe es heute nicht mehr um die Gefahr eines überbevölkerten Planeten, schreibt sie, sondern vielmehr um den überzogenen Konsum der Menschen. Diese These vertritt auch der Geologe und Blogger Reinhold Leinfelder und verdeutlicht sie mit einer Zahl: 30 Billionen Tonnen seien die technischen Dinge schwer, die der Mensch geschaffen hat. Etwa ein Drittel gehe auf das Konto heute lebender Menschen, das sind mehr als 1000 Tonnen pro Person – ein gigantischer ökologischer Fußabdruck.

Das Buch "Die Bevölkerungsbombe" erschien Anfang der 1970er Jahre auch auf Deutsch und etwa zeitgleich mit einer weiteren düsteren Prognose: Im Buch "Die Grenzen des Wachstums", einem Bericht an den Club of Rome, sagte ein Team um Dennis Meadows den Zusammenbruch für das 21. Jahrhundert voraus. Die Ehrlichs hatten die Erkenntnisse aus der Populationsentwicklung von Insekten auf den Menschen übertragen: Wenn die Bedingungen gut sind, vermehren sich die Lebewesen exponentiell – bis es zu viele sind. Meadows und seine Kollegen simulierten hingegen 99 Variablen am Computer und variierten die Bedingungen. Ihre Ergebnisse waren gleichermaßen dramatisch: In einem Szenario gab es bald keine Rohstoffe mehr, im anderen stieg die Umweltverschmutzung ins Unermessliche. In jedem Fall fehlten irgendwann die Nahrungsmittel und die Weltbevölkerung schrumpfte schnell.

Nur bei radikalen Einschränkungen könne ein "ansehnlicher Lebensstandard" gehalten werden, heißt es bei Dennis Meadows und seinen Kollegen. Maßnahme Nummer 1 passt zu den Empfehlungen der Ehrlichs: Es dürfen nur noch so viele Menschen geboren werden, wie sterben. Das Thema lag damals in der Luft. Selbst der Agrarwissenschaftler Norman Borlaug, der mit der Entwicklung ertragreicher Getreidesorten die "grüne Revolution" ermöglichte und so dazu beitrug, die Ehrlichs zu widerlegen, teilte die Sorgen dieser Zeit. Als er 1970 den Friedensnobelpreis erhielt, warnte er am Schluss seiner Nobelpreisrede vor dem "Bevölkerungsmonster": Er hoffe, dass der Mensch den Pfad der Selbstzerstörung auf der Straße des unverantwortlichen Bevölkerungswachstums bald verlasse.

Forscher geben sich optimistisch

Die Weltbevölkerung hat sich seit Anfang der 1970er Jahre mehr als verdoppelt und liegt inzwischen bei mehr als 7,5 Milliarden. Nach allen Prognosen wird sie weitersteigen – vielleicht sogar deutlich. Doch die Diskussion hat sich gewandelt: Heute wissen wir, dass die Geburtenkontrolle als Lösung zu einfach gedacht ist. In manchen Ländern sind viele Kinder eine Form der Versicherung für das Alter, und in anderen Ländern konnte man die Zahl der Kinder pro Familie senken, indem man in die Bildung der Frauen investierte.

Wissenschaftler schlagen heute einen anderen Ton an: Sie warnen nicht vor der Apokalypse, sondern zeigen auf, wie man sie vermeiden kann. Sie klingen viel optimistischer als ihre Vorgänger vor 50 Jahren. Der Weltklimarat IPCC wird zum Beispiel im Oktober 2018 einen Bericht veröffentlichen, in dem er die Möglichkeiten für das 1,5-Grad-Ziel vorstellt. Im Weltklimavertrag von Paris haben sich die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, zumindest Anstrengungen zu unternehmen, die globale Durchschnittstemperatur um nicht mehr als 1,5 Grad über das vorindustrielle Niveau steigen zu lassen, weil sonst die Korallen sterben und flache Inselstaaten überflutet werden könnten. Da die Temperaturen bereits um etwa ein Grad gestiegen sind, darf man vermuten, dass die Maßnahmen einschneidend sein müssen, um die Marke von 1,5 Grad einzuhalten. Es ist aber gut möglich, dass der IPCC auch untersuchen wird, wie man sich die Situation schönrechnen kann: indem man ein kurzfristiges Überschreiten der 1,5-Grad-Marke erlaubt und später großflächig ins Klima eingreift – Stichwort Climate Engineering.

So betrachtet hat sich eigentlich nicht viel verändert: Der Kollaps kann immer noch kommen, und er lässt sich nur mit drastischen Maßnahmen abwenden. In den vergangenen 50 Jahren haben uns technische Innovationen Zeit verschafft. Wenn man sich nicht darauf verlassen will, dass uns die Technik auch in Zukunft rettet, muss man die Herausforderung der Ehrlichs annehmen und ein positives Szenario entwickeln, das plausibel macht, wie eine wachsende und konsumfreudige Menschheit auf der Erde gut leben kann. Dabei sollte man versuchen, die Fehler der frühen Propheten zu vermeiden:

  • die Komplexität der Welt nicht unterschätzen, also die einfachen Modelle hinterfragen und die Grenzen unserer Prognosefähigkeit thematisieren;
  • die Werte der betroffenen Gruppen nicht ignorieren, also keine Lösungen vorgeben, sondern alle in die Diskussion einbeziehen und nach einem Ausgleich der Interessen suchen.

Nur manchmal scheinen alte Denkmuster wieder auf: Im September 2016 schlugen Forscher in einem neuen Bericht an den Club of Rome vor, Frauen zum 50. Geburtstag eine Prämie zu zahlen, wenn sie höchstens ein Kind zur Welt gebracht haben. Solche finanziellen Anreize hatten auch Anne und Paul Ehrlich vorgeschlagen. Sie waren übrigens konsequent und haben nur ein Kind großgezogen.

Die Moral von der Geschichte: Prognosen können nötig sein, auch dann, wenn sie vor dem Untergang warnen.

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