Direkt zum Inhalt

Die fabelhafte Welt der Mathematik: Der Mythos um Abraham Wald und den Survivorship Bias

Es ist eine schöne Heldengeschichte: Ein Mathematiker bewahrte die US-Armee vor einem naiven Fehler und trug somit zum Sieg der Alliierten bei. Hat sich das wirklich so zugetragen?
Illustration eines Flugzeugs im Retro-Stil auf einem pinken Hintergrund. Das Flugzeug ist in dunklen Linien gezeichnet und von strahlenförmigen Linien umgeben, die Bewegung oder Geschwindigkeit andeuten. Es gibt keinen Text im Bild.
Am Zweiten Weltkrieg waren auch viele Wissenschaftler beteiligt. Manche bei der Konstruktion von Kriegsgerät, andere bei der Gefahrenabwehr.
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen bis hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Wir schenken Erfolgen viel zu viel Aufmerksamkeit. Nichts anderes sagt der »Survivorship Bias« aus. Hört man den Superreichen und Supererfolgreichen unserer Welt zu, beteuern sie, dass man stets an seine Träume glauben müsse und alles dafür opfern solle. Nur so hätten sie es ganz nach oben geschafft. Das mag zwar stimmen. Trotzdem sollte man Vorsicht walten lassen, bevor man alles für seinen Traum aufgibt. Zuvor sollte man auch Stimmen von Gescheiterten sammeln. Bloß auf diese Weise erhält man ein realistisches Bild des damit verbundenen Risikos. Dieses Detail vergessen viele Menschen gern. Und angeblich auch das US-Militär während des Zweiten Weltkriegs.

Im Jahr 1943 verzeichnete die US-Armee sehr viele Verluste bei ihrer Luftwaffe: Etliche Flugzeuge wurden von der deutschen Luftverteidigung abgeschossen. Daher wandte sich das US-Militär an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie sollten herausfinden, wie man die Maschinen verstärken sollte, um sie widerstandsfähiger zu machen. Natürlich kann man ein Flugzeug nicht überall panzern, da es sonst zu schwer wird. Welche Stellen waren also am verwundbarsten?

Und nun kommt der legendäre Teil: Die Armee sammelte Daten der zurückgekehrten und teilweise beschädigten Flugzeuge. Auf diesen war zu sehen, dass sich die meisten Einschusslöcher auf den Tragflächen, um die Heckflosse und in der Mitte des Rumpfes häuften. Daher hätte die Armee ursprünglich geplant, diese Stellen zu verstärken. Das bekam ein Mathematiker namens Abraham Wald mit und bewahrte das Militär vor einem schweren Fehler. Denn entscheidend sind nicht die Einschusslöcher in den zurückgekehrten Flugzeugen, warnte Wald. Viel ausschlaggebender seien die Maschinen, die abgeschossen wurden und nicht mehr zurückfliegen konnten. Es müssten daher jene Stellen gepanzert werden, an denen kaum Schäden verzeichnet sind, denn gerade dort wären Treffer fatal.

Diagramm eines Flugzeugs von oben mit roten Punkten, die Trefferstellen darstellen. Die Punkte konzentrieren sich auf die Flügel und den hinteren Rumpf. Dieses Bild illustriert das Konzept der Überlebensverzerrung, bei dem nur die beschädigten Bereiche der zurückkehrenden Flugzeuge analysiert werden. Ziel-URL: [Beispiel-URL].
Flugzeugschäden | Hier sind mögliche Schäden von Flugzeugen eingezeichnet. Obwohl die meisten Kugeln die Tragflächen trafen, wäre es ein Fehler, genau diese Bereiche stärker zu schützen.

Diese Maßnahme habe sich bewährt und so zahlreiche Menschenleben gerettet – und vielleicht sogar zum Sieg der Alliierten beigetragen. So wird es manchmal behauptet.

Die Wahrheit hinter der Kriegsmathematik

Ich muss zugeben, es ist eine schöne Geschichte: ein Mathe-Nerd, der die US-Armee vor einem naiven Fehler bewahrt. Doch so hat es sich nicht zugetragen. Der Survivorship Bias ist schon deutlich länger bekannt – bereits im antiken Griechenland war man sich dessen bewusst. Und auch der US-Armee war klar, dass ihr wichtige Daten zu den abgeschossenen Flugzeugen fehlten. Weil sie aber keinen direkten Zugriff auf diese Informationen hatte, wandte sie sich an die Statistical Research Group (SRG) der Columbia University, wo ein gewisser Mathematiker namens Abraham Wald arbeitete.

Dieser hat tatsächlich relevante Studien für das US-Militär durchgeführt und dabei auch den Survivorship Bias beachtet. Allerdings musste er ihn den Verantwortlichen der Armee nicht erklären. Vielmehr konnte Wald anhand statistischer Überlegungen und Berechnungen Wahrscheinlichkeiten dafür angeben, wie viele und welche Treffer ein Flugzeug zum Absturz bringen können. Und an welchen Stellen man demnach die Maschinen verstärken sollte, damit sie widerstandsfähiger werden.

Dafür trug Wald die Daten zu den Flugzeugen zusammen und ordnete sie. Wie viele Maschinen wurden losgeschickt, wie viele kehrten wieder zurück? Der Einfachheit halber nahm er an, dass alle Flugzeuge, die nicht zurückkamen, von feindlichen Kräften abgeschossen wurden – er schloss mechanische Fehler aus. Dann sortierte er die zurückgekehrten Flugzeuge nach der Anzahl an Einschusslöchern: Wie viele kamen unversehrt zurück? Wie viele wurden von einer Kugel getroffen? Wie viele von zwei? Und so weiter.

Dadurch erhielt er zunächst folgende Tabelle:

Treffer Anzahl Flugzeuge prozentualer Anteil
0 320 80 %
1 32 8 %
2 20 5 %
3 4 1 %
4 2 0,5 %
5 2 0,5 %
gesamt 400 100 %

Mit diesen Daten ermittelte Wald die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schuss ein Flugzeug zum Absturz bringt. Er wusste natürlich, dass dieser Wert von der Stelle abhängt, an der das Flugzeug getroffen wird – doch erst einmal ignorierte er das. Stattdessen nahm er an, jeder Schuss würde die gleiche Gefahr mit sich bringen. Zudem ging er davon aus, dass die Anzahl an Schüssen, die eine Maschine schon abbekommen hat, keinen Einfluss darauf hat, ob der nächste fatal ist oder nicht. Sprich: Die Gefahr, die von den Schüssen ausgeht, ist unabhängig von den bereits vorhandenen Treffern. All diese Vereinfachungen mögen nicht sonderlich realistisch sein, aber sie sind nötig, um überhaupt ein Ergebnis erzielen zu können.

Die Chance, dass ein Flugzeug einen Einschuss übersteht, ist in Walds Rechnung also stets gleich groß: q. Aus den gesammelten Daten lässt sich ablesen, wie viel Prozent der zurückgekehrten Flugzeuge unversehrt waren beziehungsweise Einschusslöcher hatten. Aber es ist unklar, wie viele Treffer die abgestürzten Maschinen aufwiesen. Um diese Unbekannten in seinen Berechnungen zu berücksichtigen, nutzte Wald die Größe q. Wenn acht Prozent aller zurückgekehrten Flugzeuge ein einziges Einschussloch haben, dann beträgt der reale Anteil x1 aller Maschinen, die einmal getroffen wurden (inklusive der abgestürzten), 0,08q.

Gleiches gilt für die Flugzeuge, die zweimal getroffen wurden. Auch deren echter Anteil x2 ist wegen der unbekannten Anzahl an Treffern der abgestürzten Maschinen nicht bekannt. Man weiß nur, dass 5 Prozent der Flotte mit zwei Einschusslöchern zurückkamen. Daher beträgt der reale Anteil aller Flugzeuge mit zwei Treffern x2 =  0,05⁄ q2. Für Maschinen mit drei Treffern erhält man entsprechend x3 = 0,01⁄q3 und so weiter.

Summiert man alle Werte xi auf, erhält man alle Flugzeuge, die losgeschickt wurden – abzüglich jener, die unversehrt zurückkamen: x1 + x2 + … + x5 = 1 – 0,8. Ersetzt man die unbekannten Größen xi durch die Anteile zurückgekehrter Maschinen und q, erhält man folgende Formel:

\[ \frac{0,08}{q} + \frac{0,05}{q^2} + \frac{0,01}{q^3} + \frac{0,005}{q^4} + \frac{0,005}{q^5} = 1 – 0,8 \]

Diese Gleichung lässt sich lösen. Wald berechnete den Wert q ≈ 0,851. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass ein Flugzeug einen Schuss übersteht, beträgt etwas mehr als 85 Prozent.

Auf der Suche nach der Schwachstelle

Anschließend verfeinerte Wald sein Modell, indem er die verschiedenen Bereiche der Flugzeuge berücksichtigte, in denen es Einschusslöcher gab. Er unterteilte die Maschinen dafür in vier Zonen: Motor, Rumpf, Kraftstoffsystem und den Rest. Er wollte einen neuen Wert qi für jeden dieser Bereiche i ermitteln. Sprich: Mit welcher Wahrscheinlichkeit qi übersteht ein Flugzeug einen Schuss, wenn der Bereich i getroffen wird?

Dafür musste Wald zunächst herausfinden, wie viele Treffer welches Areal im Durchschnitt aufwies. Da er keinen Zugang zu den abgeschossenen Maschinen hatte, fehlten ihm wertvolle Daten. Also ließ Wald Experimente durchführen, bei denen die Flugzeuge mit Übungsmunition beschossen wurden. Aus diesen Versuchen konnte der Mathematiker die durchschnittliche Verteilung der Treffer ableiten.

In einem nächsten Schritt untersuchte Wald, wie viele Einschusslöcher die zurückgekehrten Flugzeuge in welchem Bereich aufwiesen – und verglich das mit den zuvor ermittelten experimentellen Daten. Falls beispielsweise die zurückgekehrten Flugzeuge kaum Treffer bei den Motoren aufwiesen, obwohl dieser Bereich aus statistischer Sicht häufig getroffen wurde, dann musste man daraus schließen, dass Treffer dort öfter zu Abstürzen führten als andere.

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Maschine einen Einschuss in einem bestimmten Bereich unbeschadet übersteht, ermittelte Wald mit folgender Formel: die Verteilung der Einschusslöcher der zurückgekehrten Flugzeuge mal q (der Wahrscheinlichkeit, generell einen Treffer zu überstehen), geteilt durch die durchschnittliche Verteilung der Treffer, die in Experimenten bestimmt wurde. Auf diese Weise identifizierte Wald den Motor tatsächlich als Schwachstelle. Nur etwa 58,8 Prozent der Maschinen überstehen einen Treffer in diesem sensiblen Bereich.

Bereich Wahrscheinlichkeit, einen Treffer zu überstehen
gesamtes Flugzeug 85,1 %
Motor 58,8 %
Rumpf 84,0 %
Kraftstoffsystem 97,3 %
Rest 93,9 %

In dieser Berechnung trat der Survivorship Bias in Erscheinung: Je weniger Flugzeuge mit durchlöchertem Motorbereich zurückgekehrt waren, desto stärker fielen diese Daten ins Gewicht – auch wenn die Zahlen nicht direkt verfügbar waren. Doch Wald konnte mit statistischen Methoden trotzdem auf die fehlenden Informationen zugreifen.

Damit tat der Mathematiker also viel mehr, als die US-Armee auf einen naiven Fehler hinzuweisen. Wald gab ihr ein wichtiges Werkzeug an die Hand, um den Aufbau ihrer Maschinen gezielt zu verbessern. Das alles gelang ihm, weil er sein Augenmerk nicht auf die Rückkehrer (die »Gewinner«) lenkte, sondern auf die Verschollenen – die Unsichtbaren. Ein solcher Perspektivenwechsel lohnt sich nicht nur in der Mathematik.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.