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Zeitdiagnosen: Der öffentliche Verkehr muss aus seinem Hamsterrad

Bloß keinem wehtun, ist das Kredo deutscher Verkehrspolitik. Eine reelle Chance hat der öffentliche Verkehr aber nur, wenn die Politik sich endlich auch gegen das Auto entscheidet, kommentiert der Soziologe und Verkehrsexperte Oliver Schwedes.
»Rückgrat« des deutschen Verkehrs?

»Rettet unsere Städte jetzt!« So lautete das Motto, unter dem der Deutsche Städtetag den öffentlichen Verkehr wiederentdeckte. Nach Jahrzehnten der Überbevorzugung des Automobils, sollten künftig Busse, Bahnen und Trams das »Rückgrat« einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung bilden. Das war Anfang der 1970er Jahre.

Der Gesinnungswandel mündete in einen verkehrspolitischen Konsens, der den Vorteil hatte, von allen beteiligten Akteuren getragen zu werden. Der private Autoverkehr und der öffentliche Verkehr sollten stets finanziell gleichermaßen bedacht werden. Sprich: Wenn der eine etwas bekommt, soll auch der andere etwas erhalten. Das ist die so genannte Parallelfinanzierung.

Sogar der ADAC konnte sich für diesen Kompromiss erwärmen, weil dadurch die Straßen für die eigene Klientel entlastet würden. Jüngst erst stellte er wieder zufrieden fest, dass der Bund sowohl in den Ausbau staubelasteter Autobahnstrecken investiere als auch parallel in den Aus- beziehungsweise den Neubau wichtiger Achsen des Schienennetzes. Beides sei im Interesse der Verbraucher.

Fauler Kompromiss Parallelfinanzierung

Als ab Mitte der 1990er Jahre der öffentliche Verkehr erneut in eine Krise geriet, erfolgte die nächste große politische Kraftanstrengung zu seiner Rettung. Während der Bund die Bahnreform durchführte, wurde die Verantwortung für den in die Jahre gekommenen öffentlichen Nahverkehr den Ländern übertragen. Damit gingen gewaltige Finanzierungsvereinbarungen einher. Von 1994 bis 2018 wurden dafür rund 172 Milliarden Euro ausgegeben. In derselben Zeit erhöhte sich die Verkehrsleistung um 36 Prozent, und die Fahrgastzahlen stiegen sogar um 56 Prozent. Eine Erfolgsgeschichte!

»Zeitdiagnosen« sind ein Projekt in Kooperation mit dem Verlag Springer VS. In dieser Kolumne beziehen einmal im Monat wechselnde Expert*innen aus den Sozial-, Medien- und Politikwissenschaften Stellung zu aktuellen Debatten unserer Zeit.

Doch leider nur die halbe Wahrheit. Warum der gute Kompromiss in Wahrheit ein fauler ist, erkennt man, sobald man über den Tellerrand des öffentlichen Verkehrs hinausschaut: Denn nicht nur dessen Leistung ist gewachsen, sondern auch die des Autoverkehrs. Seit inzwischen gut 25 Jahren ist das Verhältnis zwischen beiden Arten der Fortbewegung nahezu konstant. Und den Prognosen der Bundesregierung nach zu urteilen, wird sich daran auch bis 2030 nichts ändern. Daraus folgt, dass gemessen an den eigenen politischen Ansprüchen, eine ökonomisch effiziente, sozial gerechte und ökologisch verträgliche Verkehrsentwicklung voranzubringen, von Erfolg nicht die Rede sein kann.

Der Grund für diese unbefriedigende Situation ist, dass schlicht die absoluten Verkehrsmengen in den letzten Jahrzehnten insgesamt kontinuierlich gewachsen sind – eben auch infolge der Parallelfinanzierung. Einer aktuellen Studie des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen zufolge wurden seit der Bahnreform 1994 rund 150-mal mehr Straßenkilometer als Schienenkilometer gebaut.

Gewaltige Anstrengungen – doch das Verhältnis bleibt konstant | Die Grafik zeigt die anteilige Verkehrsleistung der Verkehrsmittel nach zurückgelegten Personenkilometern – also der Anzahl der beförderten Personen multipliziert mit der zurückgelegten Entfernung in Kilometern.
Quelle: Berechnungen des Autors auf Grundlage der Verkehrsverflechtungsprognose 2030 des BMVI sowie von »Verkehr in Zahlen 2018/2019«

Der öffentliche Verkehr ist Teil des Problems

An diesem absoluten Verkehrswachstum liegt es auch, dass die CO2-Emissionen im Verkehrssektor weiter steigen. Der »Projektionsbericht 2019« der Bundesregierung zur Treibhausgasbilanz bestätigt, dass Deutschland nicht nur seine Klimaziele bis 2020 deutlich verfehlt, sondern auch 2030 voraussichtlich um rund zehn Prozent über den vereinbarten Zielen liegen wird. Dabei sticht der Verkehrssektor besonders hervor, der bis dahin als Einziger voraussichtlich keinen Reduktionsbeitrag leisten wird.

Und hier ist der öffentliche Verkehr explizit nicht auszunehmen. Wenn immer mehr Menschen immer schneller über immer weitere Distanzen transportiert werden müssen, führt dies zwangsläufig zu mehr Verkehr – eine Wachstumsspirale, die auch die Treibhausgasemissionen weiter steigen lässt.

Milliardenschwere Fehlanreize für das Auto fehlen am Ende dem öffentlichen Verkehr

Gemessen an dem politischen Ziel einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung, ist der öffentliche Verkehr derzeit nicht Teil der Lösung. Vielmehr sieht er sich gezwungen, im Wettbewerb mit dem motorisierten Individualverkehr nicht den Anschluss zu verlieren. Bei der Verkehrspolitik muss er um Milliarden buhlen, damit er beim allgemeinen Verkehrswachstum Schritt halten kann. Der öffentliche Verkehr wirkt wie der Hamster in seinem Rad, der sich ständig bewegt, ohne zu merken, dass er keinen Schritt vorankommt.

Der Bruch mit der Wachstumsspirale

Die basale verkehrswissenschaftliche Einsicht lautet, dass es nicht ausreicht, immer mehr Geld in den öffentlichen Verkehr zu investieren, um ihn als attraktive Alternative gegenüber dem Auto zu etablieren. Vielmehr muss die Verkehrspolitik ihre Aufgabe erfüllen und eine politische Entscheidung für den öffentlichen Verkehr und gleichzeitig gegen den Autoverkehr treffen. So könnten beispielsweise milliardenschwere steuerliche Fehlanreize wie die Pendlerpauschale, das Dienstwagenprivileg und die Dieselbesteuerung – um nur die wichtigsten zu nennen – dem privaten Autoverkehr entzogen und dem öffentlichen Verkehr übertragen werden. Allein mit diesen drei Maßnahmen hätte die Verkehrspolitik jedes Jahr rund fünfzehn Milliarden Euro zur Verfügung, die sie in den öffentlichen Verkehr und natürlich den Fahrradverkehr investieren könnte. Anders gesagt, sie könnte jedes Jahr eine Schienenstrecke Berlin-München bauen und hätte immer noch fünf Milliarden Euro für den Fahrradverkehr übrig, jedes Jahr. Nach zehn Jahren hätte Deutschland schweizerische Verhältnisse im Eisenbahnwesen und holländische Verhältnisse im Radverkehr.

Indem eine solche Verkehrspolitik die Parallelfinanzierung aufgibt, vollzieht sie den Bruch mit einer Wachstumsspirale, die wir uns mit Blick auf eine nachhaltige Verkehrsentwicklung nicht mehr leisten können. Bei den Menschen bewirkt die Neujustierung der finanziellen Anreizsysteme eine Veränderung ihres Mobilitätsverhaltens. Erst unter diesen neuen Rahmenbedingungen könnte der öffentliche Verkehr einen positiven Beitrag im Rahmen einer nachhaltigen Verkehrsentwicklungsstrategie leisten – und sich vom Teil des Problems zum Teil der Lösung wandeln.

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