Sex matters: Gibt es sexuelle Intelligenz?
Ich habe neulich gelesen, dass man seine sexuelle Intelligenz testen könne. Der Test stand in einer Männerzeitschrift und bestand aus einem kurzen Fragenkatalog mitsamt simplem Punktesystem. Fünf Minuten – dann würde man erfahren, wie hoch der eigene Sex-IQ ist. Aber brauchen wir wirklich einen Sex-IQ-Test? Und gibt es so etwas wie sexuelle Intelligenz überhaupt?
Die Psychologin Sheree Conrad und ihr Kollege Michael Milburn sagen Ja. Im Jahr 2001 veröffentlichten sie ein Buch mit dem Titel »Sexual Intelligence«. Nach ihrer Definition ist sexuelle Intelligenz die Fähigkeit eines Menschen, die eigene Sexualität und die der Partnerin oder des Partners zu verstehen, das heißt: kompetente Kommunikation und gegenseitiges Verständnis, aber auch Wissen über Anatomie und Techniken. Es käme auf die Fähigkeit an, Bedürfnisse und Emotionen zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren.
Iranische Forscherinnen und Forscher haben in einer Studie aus dem Jahr 2021 sogar versucht, sexuelle Intelligenz wissenschaftlich valide zu messen. Obwohl mir Sex-IQ-Tests in Frauen- oder Männermagazinen suspekt sind, finde ich diese Studie durchaus interessant. Denn die Idee war hier nicht, den Menschen ein Punkte-Label zu verpassen, sondern Faktoren zu ergründen, aus denen sich sexuelle Intelligenz zusammensetzt. Sie identifizierten vier große Bereiche: »Körperwissen«, »persönliche Grenzen beim Sex«, »Vertrauen und Kommunikation» und »Körpergefühl beim Sex«.
Sexuelle Intelligenz ist kein angeborenes Talent
Damit kann ich als Sexualtherapeut etwas anfangen: All das sind Themen, die mir in meiner Praxis immer wieder begegnen. Es geht um Bildung und Erfahrungen. Denn sexuelle Intelligenz ist kein angeborenes Talent. Es wäre viel zu simpel, zu behaupten: Menschen haben das – oder sie haben es nicht. Sexuelle Intelligenz ist etwas, was wir im Lauf des Lebens erwerben können. So, wie wir zwar von Geburt an Nahrung zu uns nehmen, aber damit weder Feinschmecker noch Meisterköche sind.
Jeder Mensch ist zwar vom Anbeginn des Lebens ein sexuelles Wesen. Der Weg zu sexueller Erfüllung aber führt über Bildung. Deswegen möchte ich lieber von »sexueller Kompetenz« reden. Dieser Begriff beschreibt klarer, dass es sich nicht um eine angeborene Eigenschaft handelt. Sexuelle Kompetenz ist etwas, was jede und jeder für sich erlangen kann. Und zwar durch Bildung.
Sexuelle Kompetenz: Was ist das?
Es geht zuerst ganz grundsätzlich darum, Körperteile benennen zu können. Bildung bedeutet also, die sexuelle Anatomie zu kennen und Zugang zu Informationen über sexuelle Gesundheit zu haben. Bildung ist aber auch Wissen über Beziehungen und die Bedeutung von Beziehungen. Der Kopf leistet dabei nur einen Teil der Bildungsarbeit. Wir brauchen Zugang zu unseren Gefühlen, und es ist hilfreich, diese äußern zu können. Den Körper wahrzunehmen bedeutet in diesem Fall auch, dass ich reflektieren kann, wie ich mich fühle.
Wer sich auf einen anderen Menschen einlassen möchte, um erfüllende sexuelle Erlebnisse zu haben, braucht außerdem Empathie. Das bedeutet: die Person wahrzunehmen, ihre Gefühle lesen zu können. Auch das kann man trainieren. Versuchen Sie, sich in die andere Perspektive hineinzuversetzen. Was erregt sie oder ihn? Und was bereitet Ihnen selbst Lust oder Freude? Nehmen Sie sich Zeit für Selbstreflexion. Denken Sie darüber nach, was Sie mögen, was Sie erregt und was Sie von einer Partnerin oder einem Partner erwarten.
Auch Erfahrung ist übrigens eine Form von Bildung, die für sexuelle Kompetenz wichtig ist. Erfahrungen machen wir, wenn wir neue Dinge probieren. Ausprobieren bedeutet beim Sex auch, Grenzen zu respektieren und darüber zu sprechen.
- Die Kolumne »Sex matters«
Was ist guter Sex? Was hält mich davon ab? Und wie schaffe ich es, meine Vorstellungen umzusetzen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller in dieser Kolumne (hier in Bild und Ton). Seit 2013 berät er in seiner Duisburger Praxis zu Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft. Auch Sie möchten ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: Liebe@spektrum.de
- Wer kann weiterhelfen?
Die Kolumne soll dazu anregen, über eigene Bedürfnisse und Grenzen nachzudenken. Sie ersetzt weder eine ärztliche Beratung noch das persönliche Gespräch mit einem Therapeuten. Wenn man allein nicht weiterweiß, kann es helfen, mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Therapie- und Beratungsangebote – hier eine Auswahl:
Eine Übersicht über Beratungsstellen geben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Organisation pro familia. Mit Sextra bieten Teams von pro familia Beratung per Onlineformular und Mail. Therapeutenlisten – geordnet nach Name oder Postleitzahl – führen etwa die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft sowie das Institut für Sexualtherapie. Jugendliche finden Hilfe auf sexundso.de.
Sexuelle Kompetenz bezieht ein, in welchem Lebensumfeld und welcher Zeit wir uns bewegen. Andere Umstände erfordern andere Fähigkeiten. Wer heute sexuell kompetent ist, weiß, dass sich Sexualität mit den gesellschaftlichen Veränderungen weiterentwickelt. Vor 100 Jahren war es nicht üblich, auf Augenhöhe auszuhandeln, ob man miteinander Sex haben möchte. Heute gilt sexuelle Selbstbestimmung als wesentlicher Faktor für sexuelle Zufriedenheit.
Es sollte niemals darum gehen, in einem Sex-IQ-Test die höchste Punktzahl zu bekommen. Das ist Quatsch. Aber Wissen hilft – und Wahrnehmen, Fühlen, Einfühlen. Jede und jeder darf sich sexuell kompetent fühlen. Ohne IQ-Test. Einfach dann, wenn dieser Mensch zufrieden ist mit dem, wie er oder sie Sexualität erlebt. Dann sage ich: herzlichen Glückwunsch! Sie sind sexuell kompetent.
Und nun sind Sie dran: Selbstreflexion
Nehmen Sie sich mit Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner eine Minute Zeit. Setzen Sie sich einander gegenüber, schauen Sie sich in die Augen, schweigen Sie dabei – und denken Sie an Sex. Lassen Sie sich bewusst auf Ihre Gedanken und Ihr Gegenüber ein. Tauschen Sie sich dann darüber aus, was Sie gedacht, empfunden und wahrgenommen haben.
Schreiben Sie uns!
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