Boulevardjournalismus: Der Zentrallappen des Grauens
"Hier sitzt das Böse! Bremer Hirnforscher hat's entdeckt". Alle Achtung, liebe Kollegen von "Bild.de" – auf so eine Schlagzeile muss man erst einmal kommen. Da untersucht der bekannte Neurowissenschaftler Gerhard Roth die Auswirkungen frühkindlicher Vernachlässigung auf das Gehirn der Betroffenen und stellt Zusammenhänge mit einer erhöhten Neigung zu Kriminalität und Gewalt im Erwachsenenalter her. Und prompt findet er sich als Kopfgeldjäger im Neuronendschungel auf der Suche nach dem Bösen porträtiert.
Das Gehirn dient von jeher als Projektionsfläche für Gruselszenarien. Immerhin ist es der Hort aller menschlichen Triebe und zugleich die oberste Kontrollinstanz für unser Handeln – im Guten wie im Schlechten. Die Idee, ein homunukulshafter Bösewicht treibe im Kopf von Straftätern sein Unwesen, erscheint attraktiv. Immerhin ist es viel einfacher, einen Hirndefekt dahinter zu vermuten, wenn Menschen schlimme Dinge tun, als das unselige Gestrüpp aus erlebter und verübter Gewalt zu entwirren. Einfacher, ja – aber eben auch falsch. Wird die Quelle allen Übels, wie in "Bild" geschehen, auch noch in einem fiktiven "Zentrallappen" gesichtet, entlarvt sich darin die platte Unwissenheit.
Das alles wäre zum Lachen, wenn es nicht auch einen bitteren Beigeschmack hätte. Denn der krude Biologismus, den Boulevardmedien in Sachen Gehirn immer wieder bedienen, suggeriert letztlich: Die können nicht anders! Wer das Böse im Hirn hat, der handelt auch so. Dass Gerhard Roths Forschungsprojekt vielmehr den Folgen von Traumatisierungen gewidmet ist, verschweigt die reißerische Meldung. Wie ein Zugeständnis an die politische Korrektheit erscheint es da, wenn zum versöhnlichen Ende das Wegsperren als alleinige Problemlösung abgelehnt wird. "Es ist die Aufgabe unserer Gesellschaft, den Kindern und ihren Eltern engmaschige Hilfe anzubieten, bevor sie zu Verbrechern werden." Ach, "Bild" – ist das nicht über deinem Niveau?
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