Freistetters Formelwelt: Die Formel, die Formeln ausschaltet
Im Jahr 1865 veröffentlichte der schottische Physiker James Clerk Maxwell die heute nach ihm benannten Maxwell-Gleichungen. Sie beschreiben elektromagnetische Phänomene, unter anderem die Ausbreitung von elektromagnetischen Wellen, und sie werden immer wieder zu den elegantesten Formeln der Physik gezählt. Dabei verdanken sie ihre kompakte und ästhetisch ansprechende Form gar nicht Maxwell selbst, sondern einem exzentrischen Wissenschaftler, nach dem wiederum folgende Gleichung benannt ist:
Das ist die »Heaviside-Funktion«, und im Vergleich zur enormen Vielfalt der Phänomene, die durch die Maxwell-Gleichungen beschrieben werden, wirkt sie fast ein wenig enttäuschend. Sie kennt nur zwei Werte, nämlich 0 und 1. Auch als Graph gezeichnet ist sie nicht beeindruckend. Eine Linie entlang der x-Achse springt im Ursprung bei x = 0 auf den Funktionswert 1 und verläuft von da aus ebenso gerade weiter bis zur positiven Unendlichkeit.
Das klingt fast zu simpel, um eine eigene Funktion zu rechtfertigen. Tatsächlich ist die Heaviside-Funktion aber enorm praktisch – unter anderem in der Nachrichtentechnik, wo sie wie ein mathematischer Filter wirkt. Man kann eine beliebige Funktion mit der Heaviside-Funktion multiplizieren, und die resultierende Gleichung stimmt für x > 0 mit der ursprünglichen Funktion überein, ist für negative Werte jedoch gleich null. Man kann ein Signal also quasi mit der Heaviside-Funktion »einschalten« (oder auch »ausschalten«, und das natürlich nicht nur für x = 0, sondern ebenso für beliebige andere Werte).
Hauptsache, es funktioniert
Erdacht hat die Gleichung der britische Mathematiker und Physiker Oliver Heaviside. Er wurde 1850 in London geboren und hatte keine leichte Kindheit. Eine Scharlacherkrankung beeinträchtigte sein Gehör und die Interaktion mit seinen Altersgenossen. Trotz guter Leistungen in der Schule beendete er seine Ausbildung mit 16 Jahren und ging nach Dänemark, um dort als Telegrafist zu arbeiten. Im Rahmen seiner Beschäftigung stieß er auf das Werk von Maxwell, lernte es im Selbststudium verstehen und begann eigene mathematische Methoden zu entwickeln, um seine Gedanken über den Elektromagnetismus zu formulieren.
Dabei ging es ihm vor allem um die praktische Anwendbarkeit; mit der formalen Exaktheit der Disziplin konnte er wenig anfangen: Wenn etwas für ihn offensichtlich war, sah er keinen Grund, das auch noch mathematisch zu beweisen. Um schwierige Differenzialgleichungen lösen zu können, entwickelte er zum Beispiel die »Operatorenrechnung«, bei der er – vereinfacht gesagt – das Differenzieren formal einfach durch die Multiplikation mit einem Operator ersetzte und die Integration durch eine entsprechende Division. Ob diese Methode, die in der Praxis funktionierte, mathematisch korrekt war, kümmerte Heaviside nicht (dass Heavisides Operatorenrechnung auch streng mathematisch gültig ist, bewiesen später andere).
Heaviside vereinfachte Maxwells Gleichungen und war maßgeblich an der Einführung von Vektoren und Vektoranalysis beteiligt, die er dafür benötigte. Er ließ sich das Koaxialkabel patentieren, fand Methoden zur Verbesserung der Übertragung telegrafischer Nachrichten, leistete wichtige Vorarbeiten zur speziellen Relativitätstheorie und sagte voraus, dass es um die Erde eine Schicht geben müsse, die kurzwellige Radiosignale reflektiert. Für seine wichtigen Beiträge zum Verständnis dieser Ionosphäre erhielt der Physiker Edward Appleton 1947 den Nobelpreis für Physik.
Exzentrisch blieb Heaviside bis an sein Lebensende. Die letzten Jahre verbrachte er in einem Haus, dessen Möblierung – angeblich – ausschließlich aus Granitblöcken bestand. Bekannt wurde sein Name übrigens auch außerhalb der Mathematik. Der Dichter T.S. Eliot verewigte ihn im Titel seines Gedichts »The Journey To The Heaviside Layer«, dessen Vertonung seit 1981 Teil des Musicals »Cats« ist.
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