Die fabelhafte Welt der Mathematik: Drei Mathematiker erschaffen eine völlig neue Welt
Vor mehr als 2000 Jahren entstand die Bibel der Mathematik: In der Schrift »Elemente« errichtete der antike Gelehrte Euklid ein solides Grundgerüst für die Geometrie. Anhand möglichst weniger, dafür eingängiger Grundannahmen wollte er Schritt für Schritt alle Prinzipien des mathematischen Bereichs ableiten. Allerdings fanden nicht alle Postulate von Euklid Anklang. Besonders eines, das Parallelenaxiom, stellte Fachleute jahrhundertelang vor ein Rätsel, das erst im 19. Jahrhundert mit der Erfindung einer völlig neuen Geometrie gelöst wurde.
Wenn wir an Geometrie denken, handelt es sich dabei meist um die »euklidische Geometrie«, die Euklid vor mehr als 2000 Jahren begründet hat: Wir zeichnen Dreiecke, Kreise und andere Figuren auf ein Blatt Papier und bestimmen Längen, indem wir die kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten mit einem Lineal abmessen.
Um die Geometrie auf ein solides Fundament zu stellen, formulierte Euklid fünf Postulate (heute würden wir vermutlich Axiome sagen). Dabei handelt es sich um Aussagen, die offensichtlich wahr sind und keines Beweises bedürfen. Diese Aussagen dienen als Regelwerk, aus denen sich die wichtigsten Zusammenhänge des mathematischen Bereichs beweisen lassen, etwa den Satz des Pythagoras oder dass die Winkelsumme eines Dreiecks immer 180 Grad beträgt.
Das Regelwerk von Euklid
Euklids erstes Postulat besagt, dass man durch zwei Punkte stets exakt eine Linie zeichnen kann. Wenn Sie zwei Punkte auf einem Blatt Papier markieren, werden Sie feststellen, dass das natürlich stimmt. Indem Sie ein Lineal an diese zwei Punkte ansetzen, haben Sie automatisch eine (einzige) Linie gefunden, die beide verbindet.
Das zweite Postulat besagt, dass sich jede endliche Linie zu einer Geraden erweitern lässt. Sprich: Man kann das Lineal an die Linie ansetzen und sie dadurch verlängern. Auch diese Annahme scheint offensichtlich erfüllt und erfordert keinen Beweis.
Und genauso geht es weiter: Gemäß dem dritten Postulat ist es stets möglich, aus einem Punkt und einem vorgegebenen Radius einen Kreis zu zeichnen. Das ist ebenfalls unbestreitbar korrekt; Sie können einfach einen Zirkel irgendwo auf der Ebene aufstellen und einen Kreis zeichnen, ohne auf Probleme zu stoßen. Das vierte Postulat besagt, dass alle rechten Winkel miteinander übereinstimmen. Das wirkt zunächst etwas seltsam, schließlich sollte klar sein, dass gleich große Winkel identisch sind. Aber tatsächlich verwendete Euklid in den »Elementen« niemals präzise Winkelangaben. Im Wesentlichen lässt sich das vierte Postulat daher als Kongruenz-Prinzip ansehen: Wenn man etwa auf zwei Papierzettel je einen rechten Winkel zeichnet, kann man diese übereinanderlegen und wird feststellen, dass die Winkel übereinstimmen.
Das Problem mit den Parallelen
Damit scheinen die ersten vier Postulate vollkommen einleuchtend: Niemand würde ihnen wohl widersprechen – sie sind sogar so offensichtlich wahr, dass ein Beweis unnötig ist. Mit diesen vier Postulaten konnte Euklid auch schon viel erreichen und insgesamt 28 wichtige geometrische Sätze ableiten und beweisen. Für seine weitere Arbeit brauchte er jedoch noch ein weiteres Postulat. Und das führte zu Schwierigkeiten.
Das fünfte Postulat ist als Parallelenaxiom bekannt: Zeichnet man einen Punkt außerhalb einer Geraden g, dann lässt sich durch diesen Punkt genau eine Gerade h definieren, wobei g und h sich niemals schneiden. Im Prinzip besagt das fünfte Postulat von Euklid, dass es zu jeder Geraden eine einzige Parallele mit festem Abstand gibt. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, ist dieses Axiom deutlich komplizierter als die übrigen vier. Und genau das war der Fachwelt ein Dorn im Auge. Auch wenn das Parallelenaxiom wahr zu sein scheint, wirkt es eher wie ein Satz, der eines Beweises bedarf – und nicht wie eine offensichtlich wahre Grundannahme.
Daher versuchten unzählige Gelehrte über mehr als 2000 Jahre, das Parallelenaxiom aus den ersten vier Postulaten von Euklid abzuleiten. Doch alle scheiterten. Erst im 19. Jahrhundert machten die Mathematiker János Bolyai, Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski und Carl Friedrich Gauß erstmals unabhängig voneinander Fortschritte, als sie sich dem Problem widmeten.
»Ich habe die bodenlose Dunkelheit gesehen, und das ganze Licht und die ganze Freude meines Lebens sind dorthin ausgegangen«Farkas Bolyai, Mathematiker
Auch Bolyais Vater war Mathematiker und hatte sich bereits erfolglos mit dem Parallelenaxiom herumgeschlagen. Daher riet er seinem Sohn: »Versuche nicht, die Parallelen auf diese Weise zu erkennen: Ich bin diesen Weg schon gegangen. Ich habe die bodenlose Dunkelheit gemessen, und das ganze Licht und die ganze Freude meines Lebens sind dorthin ausgegangen.«
Glücklicherweise ließ sich Bolyai von den Worten seines Vaters nicht entmutigen. Er verfolgte denselben Gedanken wie seine Kollegen Lobatschewski und Gauß: Vielleicht war es ja unmöglich, das Parallelenaxiom aus den vier Postulaten zu beweisen? Wenn das so wäre, dann müsste es möglich sein, eine Geometrie zu erschaffen, die die ersten vier Postulate erfüllt, aber das Parallelenaxiom verletzt. Wenn es also gelänge, eine solche Geometrie zu entwickeln, wäre klar, dass das Parallelenaxiom unmöglich aus den vier Postulaten folgen kann. Demnach müsste man es als Axiom akzeptieren – oder darauf verzichten.
Eine neue Art der Geometrie
Die Geometrie, der sich Bolyai, Lobatschewski und Gauß widmeten, ist heute als »hyperbolische Geometrie« bekannt. Es gibt mehrere Arten, sie darzustellen. Am anschaulichsten ist aber wahrscheinlich das poincarésche Kreisscheibenmodell, das durch den Künstler M. C. Escher auch außerhalb der Mathematik bekannt geworden ist. Dabei handelt es sich um eine Scheibe, in deren Inneren die gesamte Geometrie stattfindet. Und wie sich herausstellt, erfüllt dieses Modell die ersten vier Postulate von Euklid.
Markiert man zwei Punkte innerhalb des Scheibenmodells, müssen diese laut Euklid genau eine Linie festlegen. Im Fall der hyperbolischen Geometrie handelt es sich dabei aber nicht um eine gerade Verbindung, die man mit einem Lineal zieht. Stattdessen zeichnet man einen Kreisbogen, der beide Punkte verbindet. Da es allerdings möglich ist, unendlich viele Kreisbögen durch zwei Punkte zu ziehen, braucht man eine weitere Anforderung: Der zum Kreisbogen zugehörige Kreis muss den Rand der umgebenden Scheibe schneiden – und zwar in einem rechten Winkel.
Mit dieser Definition ist Euklids erstes Axiom erfüllt: Zwischen zwei beliebigen Punkten innerhalb der Scheibe gibt es stets eine eindeutige »Linie« (in diesem Fall einen Kreisbogen), die beide verbindet. Aus dieser Definition lässt sich sofort erkennen, dass auch das zweite Postulat erfüllt ist: Jeder Kreisbogen zwischen zwei Punkten lässt sich eindeutig bis an den Rand der Scheibe erweitern.
Das dritte Postulat, das sich dem Zeichnen von Kreisen widmet, lässt sich ebenfalls einfach übernehmen. Um jeden Punkt innerhalb der Scheibe kann man einen gewöhnlichen Kreis zeichnen, analog zur gewöhnlichen Ebene. Um das vierte Postulat zu überprüfen, muss man zunächst definieren, wie ein Winkel in dieser neuen Art von Geometrie aussieht. Denn es gibt kaum noch gerade Linien, sondern Kreisbögen. Indem man jedoch die Tangenten an den Schnittpunkten zweier Kreisbögen ermittelt, lässt sich in dieser Welt ein Winkel definieren: Er entspricht dem Winkel, den beide Tangenten einschließen. Diese Art von Winkel sind auch in dieser Geometrie kongruent zueinander, wenn sie gleich groß sind.
»Aus dem Nichts habe ich ein völlig neues Universum erschaffen«János Bolyai, Mathematiker
Damit sind die ersten vier Postulate von Euklid in der hyperbolischen Geometrie erfüllt. Demnach lassen sich auch alle Sätze und Beweise, die bloß diese vier Postulate umfassen, in der hyperbolischen Geometrie ebenfalls beweisen. Obwohl sie also völlig unterschiedlich aussieht, ist diese hyperbolische Welt gar nicht so verschieden von unserer euklidischen.
Aber was ist mit dem Parallelenaxiom? Um das herauszufinden, kann man eine »Gerade« (einen Kreisbogen innerhalb der Scheibe) zeichnen und dann einen Punkt außerhalb dieser Geraden markieren. Gemäß Euklids fünftem Postulat müsste es nun exakt eine weitere Gerade geben, die durch den Punkt verläuft und die vorhandene Gerade nicht schneidet. Doch in der hyperbolischen Geometrie findet man nicht nur eine solche »Parallele«, sondern unendlich viele!
Damit konnten Bolyai, Lobatschewski und Gauß beweisen, dass man das Parallelenaxiom unmöglich aus den ersten vier Postulaten von Euklid folgern kann. Das war den drei Mathematikern gelungen, indem sie eine neue Art der Geometrie begründeten. Bolyai war davon so fasziniert, dass er 1823 in einen Brief an seinen Vater schrieb: »Ich habe so wundervolle Sachen entdeckt … Aus dem Nichts habe ich ein völlig neues Universum erschaffen.«
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