Freistetters Formelwelt: Die Geschichte des x
Der Buchstabe »x« ist in der deutschen Sprache selten. Die Angaben über seine relative Häufigkeit variieren je nach der Grundlage der ausgewerteten Texte, liegen aber immer deutlich unter einem zehntel Prozent. Würde man sich bei der Analyse jedoch auf mathematische Texte konzentrieren, dann wäre das x wohl deutlich überrepräsentiert. Hier hat der in der normalen Sprache eher vernachlässigte Buchstabe eine große Karriere gemacht.
Das x findet man überall dort, wo es etwas Unbekanntes repräsentieren soll. Zum Beispiel hier:
Diese Formel stammt aus dem epochalen Werk »Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la verité dans les sciences«, das 1637 vom französischen Gelehrten René Descartes veröffentlicht wurde. Auf Deutsch lautet der barocke Titel »Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut zu gebrauchen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen«. Descartes behandelt darin die Philosophie ebenso wie die Mathematik. Die meisten kennen den darin erschienenen berühmten Satz »Ich denke, also bin ich« und vermutlich auch das ebenso bekannte und nach Descartes benannte »kartesische Koordinatensystem«.
Ist das x arabisch?
Die oben aufgeführte Formel ist weniger prominent. Sie stammt aus der im Buch enthaltenen Abhandlung »La Géométrie«. Darin behandelt er das, was man heute analytische Geometrie nennt, also die Darstellung geometrischer Probleme durch algebraische Formeln.
Die hier vorgestellte Formel ist an sich nicht besonders, auch in Descartes' Werk illustriert sie nur eines von vielen geometrischen Problemen. Unser moderner mathematisch geschulter Verstand sieht hier auch sofort die zwei üblichen Gruppen von Variablen. Da sind einerseits x und y, die Buchstaben, die wir (gemeinsam mit z) standardmäßig zur Beschreibung unbekannter Größen verwenden. Und a, b und c, die bekannte Werte ausdrücken.
Es ist heute in der Mathematik absolut üblich, für die Unbekannten Buchstaben am hinteren Ende des Alphabets zu benutzen und sich für die bekannten Zahlen am vorderen Ende zu bedienen. Eingeführt hat diese Regel aber René Descartes. Ob er auch der Erste war, der das x explizit als Variable für das Unbekannte erfunden hat, ist – fast schon passenderweise – unbekannt. Oft wird behauptet, der Ursprung des mathematischen x läge in der arabischen Mathematik, wo man »al-shalan« für »etwas Unbekanntes« sagt.
Als spanische Gelehrte diesen Begriff transkribieren wollten, fehlte ihnen ein Laut für das arabische »sh«, weswegen sie einen »ck«-Laut substituierten – was sie auf Griechisch durch das Symbol Χ (chi) taten. Für diese Geschichte gibt es aber keine wirklich belastbaren Belege.
Ebenso wenig belegt ist die Anekdote, dass eigentlich der Drucker von Descartes' »Discours« für die Vorherrschaft des x verantwortlich war: Er soll den Gelehrten gefragt haben, ob man nicht vielleicht vorrangig das x in den Formel verwenden könne, da es der am wenigsten benutzte Buchstabe sei, von dem er deswegen auch ausreichend Typen übrig habe.
Auch Descartes selbst war in seinem Werk noch nicht absolut konsequent bei der Verwendung des x als Symbol für das Unbekannte. Aber egal, wo sein Ursprung liegt; Descartes hat mit seiner Arbeit für dessen Durchsetzung gesorgt. Heute ist es ein fester Bestandteil der meisten mathematischen Gleichungen, und es hat sich in dieser Bedeutung auch weit darüber hinaus verbreitet. Der Bürgerrechtler Malcom X wählte den Buchstaben als seinen Nachnamen, da er nicht den Namen tragen wollte, den seine Vorfahren von den Sklavenhaltern bekommen hatten, und sein wahrer Name ihm unbekannt war. Der im Deutschen »Röntgenstrahlung« genannte Teil des elektromagnetischen Spektrums heißt auf Englisch immer noch »x-rays«, da anfangs unbekannt war, um was es sich bei dieser Strahlung handelt. Und ohne Descartes hätten sich auch die Produzenten von »Akte X« einen anderen Titel überlegen müssen …
Schreiben Sie uns!
2 Beiträge anzeigen