Freistetters Formelwelt: Die Geschichte von Pi und Varpi
In mathematischen Formeln werden die unterschiedlichsten Symbole aus jeder Menge verschiedener Schriftsysteme verwendet. Im Prinzip sind sie beliebig austauschbar. Meistens gibt es allerdings einen Grund, warum bestimmte Symbole für bestimmte Zwecke benutzt werden. Und die eine oder andere Überraschung.
In meiner Forschung zur Himmelsmechanik habe ich zum Beispiel immer wieder ein ganz bestimmtes Zeichen verwendet, um bei Planetenbahnen die so genannte »Perihellänge« anzugeben. Das ist eine der Kennzahlen, mit denen Umlaufbahnen beschrieben werden können, und sie berechnet sich aus zwei charakteristischen Winkeln, die die Orientierung der Bahn im Raum festlegen. Das übliche Symbol dafür sah aus wie der griechische Kleinbuchstabe omega mit einem Querstrich darüber: ϖ
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Um das in meinem Textverarbeitungssystem korrekt darstellen zu können, musste ich den Code “\varpi” verwenden, was mich immer ein wenig irritiert hat: Wieso »pi«, wo dieses Zeichen doch gar nicht nach π aussieht und auch nichts mit der Kreiszahl zu tun hat?
Der Grund ist diese Formel:
Sie beschreibt die so genannte »lemniskatische Konstante«, die der große Mathematiker Carl Friedrich Gauß im Jahr 1798 eingeführt hat. Eine Lemniskate ist eine spezielle schleifenförmige Kurve in Form einer liegenden Acht. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, solche Kurven zu definieren, in der Regel meint man aber die »Lemniskate von Bernoulli«. 1694 beschrieb der Schweizer Mathematiker Jakob Bernoulli eine modifizierte Ellipse, bei der nicht, wie üblicherweise, die Summe der Abstände zu den beiden Brennpunkten konstant ist, sondern das Produkt der Abstände. Das Resultat ist die Kurve der Lemniskate, und man kann natürlich auch ihren »Umfang« berechnen oder genauer gesagt ihre Bogenlänge. Die hängt vom Abstand zwischen den beiden »Brennpunkten« ab. Und von einem Ausdruck, der durch die obige Formel beschrieben wird.
Das obige Integral lässt sich berechnen, und das Ergebnis ist eine Zahl, die Gauß zuerst mit dem griechischen Großbuchstaben für Pi (Π) und später mit dem seltsamen Symbol ϖ bezeichnet hat. Denn dabei handelt es sich um eine alternative Schreibweise von π, eine Variante also – worin auch der Code »\varpi« seinen Ursprung hat.
Gauß wollte damit auf die Verwandtschaft der Formel zur Berechnung des Umfangs eines Kreises hinweisen. Die sieht man nicht auf den ersten Blick; wenn man jedoch den Kreisumfang nicht mit der üblichen Formel U=2rπ bestimmt, sondern auch hier den allgemeineren Weg der Berechnung über ein Integral entlang des Kreisbogens wählt, erhält man einen Ausdruck, der sich formal nur im Exponenten für t (t2 statt der vierten Potenz) von der Definition der lemniskatischen Konstante unterscheidet.
So wie π ist auch ϖ eine irrationale und transzendente Zahl. Sie kann also weder als simple Bruchzahl noch als Nullstelle eines Polynoms mit ganzzahligen Koeffizienten dargestellt werden. Und so wie bei der Kreiszahl kann man auch bei der lemniskatischen Konstante zwar jede Menge Nachkommastellen berechnen, aber kein Muster in ihnen finden. Bisher hat man 600 Milliarden Stellen nach der führenden 2 berechnet. Die ersten zehn davon lauten 2,6220575542…, und wer möchte, findet im Internet noch viel mehr davon.
Mit meinen himmelsmechanischen Berechnungen hat das alles nichts zu tun, Planetenbahnen in Form einer Acht findet man nur in sehr speziellen theoretischen Fällen und nicht im echten Universum. Das seltsame ϖ-Symbol hat in der Astronomie nichts mit pi zu tun, sondern wurde gewählt, weil es von der Form her zu den Symbolen für die anderen Winkel (ein großes und ein kleines Omega) passt. Aber immerhin hat es mich auf Umwegen zu einer neuen spannenden Geschichte über die Zahl Pi geführt – und davon kann man nie genug kennen.
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