Freistetters Formelwelt: Der schmale Grat zwischen Ordnung und Chaos
Mein richtiger Einstieg in die Wissenschaft war die Chaostheorie. Als ich sie kennen gelernt habe, hatte ich zwar schon fünf Semester des Astronomiestudiums hinter mir. Aber obwohl ich mich damals durchaus für das Weltall und die Himmelskörper interessiert habe, fehlte irgendwie der letzte Funke an Begeisterung. So lange jedenfalls, bis ich in einer Lehrveranstaltung mit dieser mathematischen Formel konfrontiert wurde:
Sie ist nicht sonderlich kompliziert. Es handelt sich um eine simple Iterationsvorschrift für komplexe Zahlen z und c. Legt man den Startwert der Iteration mit z0 = 0 fest, ist sehr einfach zu sehen, was passiert. Man muss einfach nur immer wieder eine komplexe Zahl mit sich selbst multiplizieren und die vorher gewählte Zahl c addieren.
Der spannende Aspekt der Formel wird sichtbar, wenn man sich ansieht, wie sie sich für größere Werte von n verhält. In manchen Fällen wird z immer größer und größer. Wählt man hingegen einen anderen Wert für c, dann bleiben die Werte für z beschränkt, egal wie weit man die Iteration treibt. Markiert man nun diese Werte für c, bei denen die Folge nicht über alle Grenzen wächst, als Punkte in der komplexen Zahlenebene, dann ergibt sich ein erstaunliches Bild.
Es ist als Mandelbrot-Menge bekannt, benannt nach dem Mathematiker Benoît Mandelbrot, der sich ausführlich damit beschäftigt hat. Die Menge wird manchmal auch als Apfelmännchen bezeichnet – und mit ein wenig Fantasie ähnelt sie tatsächlich einem Apfel. Allerdings nur auf den ersten Blick! Es gibt zwar einen großen zusammenhängenden Bereich, innerhalb dessen die Iteration beschränkt bleibt. Doch aus dieser Region sprießen jede Menge große und kleine »Knospen« – und das ist noch lange nicht das Ende.
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Die Formenvielfalt, die sich hier präsentiert, ist mit Worten kaum zu beschreiben. Aus den Knospen wachsen »Antennen« und Strukturen, die wie Seepferdchen aussehen und sich bei noch näherer Betrachtung in Speichen und Spiralen auflösen. Auf wieder kleineren Skalen tauchen plötzlich Figuren auf, die wie Kopien der ursprünglichen Mandelbrot-Menge aussehen. Die Vielfalt der Strukturen und ihre Komplexität haben kein Ende, egal wie weit man in das Bild hineinzoomt.
Zwischen Kunst und Mathematik
Man kann das unterschiedliche Verhalten der Iterationsfolge noch feiner klassifizieren und in unterschiedlichen Farben darstellen. Die so entstehenden Bilder scheinen dann mehr der Kunst als der Mathematik entsprungen zu sein. Die Ästhetik der Mandelbrot-Menge hat die Kunst tatsächlich immer wieder inspiriert und ist auch der Grund, warum sie in der Öffentlichkeit präsenter ist als andere mathematische Objekte.
Mich persönlich hat vor allem ihre Komplexität fasziniert. Die Mandelbrot-Menge stellt ja, vereinfacht gesagt, die Menge an Startwerten dar, für die sich im Lauf der Zeit ein geordnetes Verhalten entwickelt. Die Menge der restlichen Zahlen zeigt einen chaotischen Verlauf. Die Grenze zwischen Ordnung und Chaos ist bei der Mandelbrot-Menge aber auf eine so komplexe und verwirrende Weise ineinander verschachtelt, dass eine beliebig winzige Änderung des Startwerts schon ausreichen kann, um von einem Zustand in den anderen zu wechseln.
Genau das ist das markanteste Kennzeichen von komplexen dynamischen Systemen – und genau das war es, was mich damals enorm inspiriert hat. Ich habe das Wissen über die Chaostheorie später in meiner Forschungsarbeit genutzt, um zum Beispiel die Bewegung von Planeten und Asteroiden zu verstehen, die oft ebenso komplex sein kann, wie es die Mandelbrot-Menge ist. Wer weiß, ob ich die Astronomie nicht aufgegeben hätte, wenn ich das Chaos nicht kennen gelernt hätte.
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