Freistetters Formelwelt: Die Mathematik der Gefahr
Es ist wesentlich gefährlicher, mit dem Auto zu fahren, als mit dem Flugzeug zu fliegen. Das belegen alle Fakten und Daten über Verkehrsunfälle und Flugzeugabstürze. Trotzdem haben wir nur selten Angst, in ein Auto zu steigen, fürchten uns allerdings vor einer Flugreise. Unser Gehirn scheint nicht dafür gemacht zu sein, Risiken und Wahrscheinlichkeiten intuitiv zu verstehen. Wir müssen auf mathematische Berechnungen zurückgreifen. Zum Beispiel mit dieser Formel:
»ARR« beschreibt etwas, das sich »Absolute Risikoreduktion« nennt und ein ziemlich wichtiges Konzept in der Medizin ist. Will man zum Beispiel wissen, wie gut (oder schlecht) ein Medikament oder eine Therapie funktioniert, kann man das mit einer randomisierten Studie herausfinden. Testpersonen werden zufällig in zwei Gruppen eingeteilt, wobei eine Gruppe mit dem zu testenden Medikament behandelt wird und die andere mit einem Placebo. Außerdem wird ein Zielpunkt festgelegt, zum Beispiel das Verschwinden von bestimmten Symptomen.
Je nach Ausgang der Tests werden die Personen dann in vier Gruppen eingeteilt. In Gruppe A sind die Personen, die mit dem Medikament behandelt wurden und bei denen der Zielpunkt erreicht wurde. Gruppe B umfasst die Menschen, die das Medikament bekommen haben, den Zielpunkt aber nicht erreicht haben. In Gruppe C kommen die Personen, die das Ziel erreicht haben, obwohl sie ein Placebo verabreicht bekamen, und in Gruppe D der Rest (Placebobehandlung ohne Erreichen des Zielpunkts).
Danach wird mit der Formel die ARR berechnet. Ist die Zahl positiv, dann ist die Behandlung mit dem Medikament der Verabreichung eines Placebos überlegen. Ist sie negativ, dann war das Medikament schädlicher als das Placebo.
Relativ und absolut
Das absolute Risiko einer medizinischen Intervention unterscheidet sich dabei vom relativen Risiko. Das wird an einem Beispiel klar: Angenommen, bei einem Test kann durch ein Medikament die Zahl der Erkrankungen von 10 auf 5 Fälle bei 1000 Personen reduziert werden. Relativ gesehen ist das eine Reduzierung des Krankheitsrisikos um 50 Prozent (5 von 10). Absolut gesehen sind es jedoch nur 0,5 Prozent (5 von 1000). Die erste Zahl wird vermutlich die Firma, die das Medikament vermarkten möchte, bevorzugt verwenden. Die zweite Zahl ist aber wesentlich aussagekräftiger, da sie die Gesamtheit aller Fälle berücksichtigt.
Das wird besonders deutlich, wenn es nicht um Heilung, sondern um Gefährdung geht. Betrachten wir diese von mir frei erfundenen Aussagen: »Der Konsum von einem Glas Bier pro Tag erhöht das Herzinfarktrisiko um 100 Prozent« und: »In der Gruppe der Menschen, die pro Tag ein Glas Bier getrunken haben, erlitten 2 von 1000 Menschen einen Herzinfarkt; in der Gruppe, die kein Bier trank, gab es dagegen nur einen Herzinfarkt unter 1000 Personen«.
Beide Aussagen beschreiben denselben Sachverhalt. Doch es klingt für uns definitiv gefährlicher, wenn wir hören, dass das Risiko eines Herzinfarkts um 100 Prozent steigt. Das ist aber eben nur das relative Risiko. Diesem liegt der Befund zu Grunde, dass in der einen Gruppe eine Person und in der anderen zwei Personen einen Herzinfarkt hatten. Das absolute Risiko stieg dagegen bloß um 0,1 Prozent (1 Person von 1000).
Die Angabe von relativen Risiken findet man leider viel zu oft in Medienberichten. Kein Wunder, denn sie klingen im Allgemeinen viel spektakulärer. Wenn wir wirklich über Gefahren oder Erfolge Bescheid wissen wollen, sollten wir nach den absoluten Zahlen suchen. Vor allem jedoch sollten wir uns immer der Tatsache bewusst sein, dass wir Wahrscheinlichkeiten und Risiken nicht ohne Weiteres korrekt einschätzen können. Der Rückgriff auf die Mathematik mag oft mühsam und kompliziert sein. Aber wenn wir die Dinge klar sehen möchten, bleibt uns keine andere Wahl.
Im Artikel wurde – dank des Hinweises diverser Leserinnen und Leser – ein Zahlenfehler beim relativen Risiko korrigiert.
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