Freistetters Formelwelt: In einem Glas Wein findet man das ganze Universum
Richard Feynmans Erläuterungen über die Verbindung zwischen Physik, Astronomie, Geologie, Chemie und Wein haben durchaus ihren Reiz. Ich persönlich bin eher Biertrinker, aus Sicht der Wissenschaft macht das aber keinen großen Unterschied. Auch ein Glas Bier ist voll mit Physik und Astronomie – und überraschend viel Mathematik.
Eine im Februar 2023 erschienene Forschungsarbeit hat sich intensiv mit dem Phänomen des Bierschaums beschäftigt – und beginnt mit der viel versprechenden Aussage: »Es ist unbestreitbar, dass Bierschaum ein wichtiges Qualitätsmerkmal ist.« Zugegeben, um das zu erkennen, braucht es keine intensiven Studien. Doch wenn man den Schaum tatsächlich verstehen will, kommt man ohne Mathematik nicht aus. Der Text des Artikels ist voller Formeln, und die erste davon lautet so:
Sie im Detail zu erklären, käme einer Einführung in die Mechanik turbulenter Strömungen gleich, mit einer Prise numerischer Mathematik und Chaostheorie. Wir wissen immer noch nicht, wie man das Verhalten von strömenden Flüssigkeiten mathematisch exakt beschreiben kann oder ob man ihre chaotische und turbulente Bewegung überhaupt in klar definierte Formeln fassen kann. Deswegen muss man sich mit numerischen Näherungslösungen behelfen und diese Phänomene am Computer simulieren. Die obige Gleichung ist eine von mehreren, die nötig sind, um das zu tun; sie basiert auf einem Erhaltungssatz, der bei viskosen, aus unterschiedlichen Anteilen bestehenden Flüssigkeiten gilt. Damit und mit noch sehr viel mehr Mathematik, mit Computersimulationen und auch mit realen Experimenten sind die Forscher dem Phänomen des Bierschaums nachgegangen.
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Wie der Schaum entsteht, war schon vorher klar: CO2, das im Bier gelöst ist, wird gasförmig und die entstehenden Bläschen bilden den Schaum. Die Schaumkrone sorgt außerdem dafür, dass nicht zu viel weiteres CO2 frei wird und das Bier somit frisch schmeckt. Wie lange der Schaum stabil bleibt, hängt einerseits von der Chemie ab – vor allem von den Stoffen, die abseits von Wasser und Alkohol den Geschmack des Biers ausmachen. Andererseits spielt auch die Physik eine wichtige Rolle: nämlich in Form der Temperatur des Biers und des Drucks, mit dem es gezapft wird. Diese Zusammenhänge herauszufinden, war das Ziel der neuen Forschungsarbeit: Mit mathematischen Modellen und den realen Experimenten haben die Fachleute unterschiedliche Kombinationen von Druck und Temperatur untersucht, um die bestmögliche Kombination für stabilen Schaum zu finden.
Nicht zu kühl und wenig Druck: So erhält man eine stabile Schaumkrone
Die meisten Leserinnen und Leser werden wohl mit mir einer Meinung sein und ihr Bier ausreichend kühl genießen wollen. Aber, so die Forschungsergebnisse, ein kühles Bier ist schlecht für den Schaum. Bei einer Temperatur von 5 Grad Celsius war die Qualität des Schaums am schlechtesten. 10 oder 15 Grad lieferten deutlich bessere Werte. Das heißt allerdings nicht, dass man nur die Wahl zwischen lauwarmem und abgestandenem Bier hat. Denn man darf den Druck nicht vernachlässigen. Wird das Bier mit niedrigem Druck gezapft, bleibt der Schaum auch bei 5 Grad ausreichend stabil. Durch die umfassende mathematische Analyse konnten die Forscher erklären, warum das so ist: Es kommt auf die Größe der Gasbläschen im Schaum an. Wenn es große und kleine Blasen gibt, drängen sich die kleinen zwischen die großen und geben ihr Gas durch Diffusion an sie ab. Das Ergebnis: Der Schaum löst sich schnell auf. Sind die Bläschen dagegen alle eher gleich groß, bleibt der Schaum länger stabil.
Ich finde es faszinierend, wie viele wissenschaftliche Werkzeuge man einsetzen muss, um etwas so Alltägliches wie Bier wirklich gut zu verstehen. Man kann das Bier aber auch sehr gut ohne all dieses mathematische Hintergrundwissen trinken. Oder, um nochmals Richard Feynman zu zitieren: »Let it give us one more final pleasure: drink it and forget it all.«
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