Freistetters Formelwelt: Die Potenz der Potenzen
Mathematik besteht aus mehr als nur Zahlen und kryptischen Symbolen. Sie besteht vor allem aus Funktionen. So bezeichnet man eine Beziehung zwischen zwei Mengen, bei der jedem Element einer Menge genau ein Element der zweiten Menge zugeordnet wird. y = x2 ist ein simples Beispiel für eine Funktion bei der jeder Zahl x ihre Quadratzahl y zugeordnet wird.
Mit Funktionen kann man Zusammenhänge erkennen, die sonst vielleicht nur schwer zu sehen wären. Bei der Analyse von Daten sucht man daher oft nach einer der Verteilung der Datenpunkte zu Grunde liegenden Funktion, um allgemeine Mechanismen zu entdecken. Manchmal kommt es jedoch auch vor, dass man eine Funktion kennt und diese absichtlich wieder "kaputt" macht. Denn sehr viele mathematische Funktionen kann man ebenso als "Potenzreihe" darstellen, etwa die bekannte Exponentialfunktion ex.
Das große ∑ zu Beginn der Formel sagt uns, dass es sich um eine Summe einzelner Zahlen handelt. Die Angaben "n = 0" und "∞" darunter und darüber bedeuten, dass wir unendlich viele Zahlen addieren müssen, um den endgültigen Wert der Summe zu erhalten. Wir starten mit n = 0 und setzen dies in die Berechnungsvorschrift ein, gehen dann weiter zu n = 1 und addieren das Ergebnis zum vorherigen Wert. Dann kommt n = 2 und so weiter. Natürlich ist es in der Realität nicht möglich, unendliche viele Additionen durchzuführen. Man muss die Summe irgendwo abbrechen und bekommt ein Ergebnis, das nicht exakt richtig ist. Aber genau das ist manchmal nötig.
Dies gilt beispielsweise für eine Disziplin namens "Störungsrechnung". Oft steht man vor dem Problem, dass man Gleichungen schlicht und einfach nicht lösen kann wie etwa jene Gleichungen, die angeben, wie man die zwischen drei oder mehr Himmelskörpern wirkende Gravitationskraft berechnen kann. Schon im 19. Jahrhundert hatte der französische Mathematiker Henri Poincaré bewiesen, dass es dafür eigentlich keine Lösung gibt.
Heute kann man die Bewegung der Himmelskörper am Computer simulieren und so zu verlässlichen Aussagen über ihr Verhalten kommen. Dadurch sieht man, was passiert – aber versteht nicht immer, warum sich dies derart vollzieht. Dazu müsste man die konkreten mathematischen Zusammenhänge und Funktionen kennen, die das Verhalten beschreiben – welche man nicht kennt, weil sich die Gleichungen nicht lösen lassen.
Als ich mich während meines Astronomiestudiums auf die Himmelsmechanik spezialisiert hatte, war das Thema der ersten Vorlesung genau dieses Problem: Wie kann man – ohne Computersimulation – komplexe und eigentlich nicht lösbare mathematische Gleichungen doch in den Griff bekommen? Ganz einfach: Man ersetzt die Funktionen in den Gleichungen durch Potenzreihen, obwohl das im konkreten Fall auch alles andere als "einfach" sein kann. Dann steht man zwar immer noch vor dem Problem, dass man unendlich viele Zahlen addieren müsste, um zu einer Lösung zu kommen. Aber wenn man Glück hat, dann spielen nur die ersten paar Zahlen der Reihe eine Rolle und die Beiträge der folgenden Zahlen in der Summe werden immer kleiner und kleiner. Dann kann man die Berechnung der Reihe einfach abbrechen und macht dabei zwar einen Fehler, aber eben nur einen kleinen Fehler, den man fürs Erste ignorieren kann.
Am Ende erhält man dank der Reihenentwicklung der Funktionen doch noch einen mathematischen Zusammenhang, den sich entsprechend analysieren lässt – und selbst wenn es sich nur um eine näherungsweise Lösung handelt, ist diese besser als gar kein Resultat zu haben. Potenzreihen tragen die Unendlichkeit in sich und all die damit verbundenen Probleme, aber ebenfalls den Weg zur Lösung sonst unlösbarer Probleme – zumindest wenn man bereit ist, die Unendlichkeit zu ignorieren und mit kleinen Fehlern zu leben. Und das fällt Himmelsmechanikern wie mir vermutlich deutlich leichter als den reinen Mathematikern …
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