Wissenschaftsgeschichte: Die Quantisierung des Atoms
Nach seiner Doktorarbeit brach der dänische Physiker Niels Bohr für ein Jahr nach England auf, angetrieben durch "meinen albernen, wilden Übermut", wie er seine Gemütslage in einem Brief an seine Verlobte, Margrethe Nørlund, beschrieb [1]. Bohr würde diesen Übermut auf dem Weg zu seiner revolutionären Idee – der Quantisierung des Atoms im Jahr 1913 – gebrauchen können.
Bohr hatte allen Grund dazu, sich zu großen Taten berufen zu fühlen. Für eine theoretische und experimentelle Studie über Wasserstrahlen, veröffentlicht von der Royal Society of London, hatte er 1908 im Alter von nur 23 Jahren eine Goldmedaille von der Königlich Dänischen Akademie der Wissenschaften erhalten. Seine Doktorarbeit über die Elektronentheorie der Metalle war so tief greifend, dass niemand in Dänemark sie in Gänze beurteilen konnte.
Bohr ging an die University of Cambridge in England, um dort mit Joseph John Thomson zu arbeiten – bekannt als Entdecker des Elektrons und Träger des Nobelpreises für Physik aus dem Jahr 1906. Für Bohr war Thomson "ein wegweisendes Genie". Doch Thomson war mit seinen eigenen Ideen beschäftigt und hatte kein offenes Ohr für einen Ausländer, dessen Englisch sich nur schwer verstehen ließ. "Loyalität zeigt er nicht einmal gegenüber seinem König", schrieb Niels an seinen Bruder Harald, "was in England mehr bedeutet als in Dänemark" [1].
Selbst wenn Thomson interessiert gewesen wäre, hätte er sich wohl schwer damit getan, seinen Postdoc als gestandenen mathematischen Physiker anzusehen. Zudem war Bohr gut darin, andere zu kritisieren. In seiner Doktorarbeit hatte er Fehler in Thomsons Publikationen entdeckt, auf die er den Professor aufmerksam machen wollte. Kein kluger Schachzug.
Thomson war gänzlich damit beschäftigt, die Tragweite seines Atommodells von 1903 zu erfassen. Später unpassend und spöttisch als "Rosinenkuchenmodell" bezeichnet, bestand es aus konzentrischen Elektronenringen, die durch einen kugelförmigen, widerstandslosen und positiv geladenen Raum rotieren. Mit diesem Bild erklärte Thomson die periodischen Eigenschaften der Elemente, die Bildung einfacher Moleküle, Radioaktivität, die Streuung von Röntgenstrahlung und Betateilchen sowie das Verhältnis von Atomgewicht und Elektronenanzahl.
Einen Großteil seiner Zeit in Cambridge verbrachte Bohr mit Lesen und dem Besuch von Vorträgen. Er pries Thomsons Vorlesungen und bewunderte die wissenschaftliche Abhandlung "Aether und Matter" (1900) von Joseph Larmor. Hierin entwickelt der Inhaber des Lehrstuhls für Mathematik, den einst Isaac Newton innehatte, ein neues Weltsystem: Es basiert auf Elektronen, die er sich als permanente Verwirbelungen im Äther vorstellte. "Wenn ich etwas lese, das so gut und großartig ist wie das", schrieb Bohr an Margrethe [1], "dann verspüre ich so einen Wagemut und ein Verlangen, auszuprobieren, ob auch ich ein kleines bisschen was erreichen könnte."
Atommodell mit Kern
Im Februar 1912 besuchte Bohr die Victoria University of Manchester in England, mit der Absicht, in Ernest Rutherfords Labor an Radioaktivität forschen zu dürfen. Er freute sich darauf in seiner subtilen Art und Weise: "Meine Leidenschaft ist entfacht, so wild, so wild" [1]. Rutherford erfüllte seine Erwartungen: "ein wirklich erstklassiger Mann und äußerst fähig, in vielerlei Hinsicht fähiger als Thomson, obwohl er vielleicht nicht so talentiert ist" [1].
Rutherford übertraf Thomson sicherlich als Forschungsleiter. Als Bohr in dessen Labor ankam, arbeiteten mehrere Wissenschaftler an den Implikationen des rutherfordschen Atommodells. Seine Doktoranden hatten eine unerwartete Reflexion von Alphateilchen an dünnen Metallfolien nachgewiesen. Um diese Beobachtung zu erklären, schlug Rutherford 1911 vor, die positive Ladung in Thomsons Kugeln in einem winzigen Kern im Mittelpunkt des Atoms zu versammeln.
Bald schon trat Bohr der Gruppe bei – dank seiner Eigenschaft als exzellenter Kritiker. Rutherfords Theoretiker Charles Galton Darwin hatte den Energieübertrag von Alphateilchen zu den Elektronen eines Atom berechnet und dabei etwas übersehen: Stimmt die Zeitspanne, in der das Teilchen am Atom vorbeifliegt, mit der Eigenfrequenz der gestörten Elektronen überein, treten Resonanzeffekte auf.
Als Bohr die Berechnungen korrigierte, entdeckte er, dass einige Schwingungsmoden eines Elektronenrings in der Bahnebene anwachsen, bis sie das Atom zerreißen. Mit Hilfe allgemein anerkannter physikalischer Konzepte ließ sich diese mechanische Instabilität nicht beheben. Durch seine Doktorarbeit kannte Bohr bereits andere Beispiele für unvollständige Theorien: Die Gleichungen für Wärmestrahlung und Magnetismus erlaubten den Elektronen jede Freiheit, die ihnen die statistische Mechanik gewährte. In seiner eigentümlichen Denkweise gefiel Bohr das rutherfordsche Atommodell, gerade weil es seine Unzulänglichkeit so deutlich zum Ausdruck brachte.
Das Modell besaß noch weitere Vorzüge. Es unterschied klar zwischen radioaktiven und chemischen Phänomenen, die Bohr zufolge vom Atomkern beziehungsweise der elektronischen Struktur herrühren. Diese Schlussfolgerung war damals nicht so naheliegend wie heute. Auch Rutherford hatte den Unterschied noch nicht verstanden und führte den Ursprung der Beta- und Gammastrahlen auf die Elektronen um den Atomkern zurück.
Das Wichtigste am neuen Atommodell war aber wohl, dass es zusammen mit Rutherfords Vorstellung von Alphateilchen als nackter Atomkern die Physiker nahezu auf das Konzept der Ordnungszahl stieß. Bei Alphateilchen handelte es sich um Heliumatome, denen zwei Elektronen fehlten – das war bekannt; ihr Kern muss daher die Ladungszahl Zwei aufweisen und Wasserstoff folglich die Ladungszahl Eins, Lithium die Ladungszahl Drei und so weiter.
Obwohl das Rutherford-Memorandum überwiegend qualitativer Natur war, traf Bohr einen wesentlichen Punkt exakt, während Thomson hier nur schätzen konnte. Das Atomgewicht von Helium (4) entspricht der doppelten Elektronenzahl (2), so erforderten es Streutheorie und Experimente von Rutherford. Thomson hatte dagegen die Streuung von Röntgenstrahlen und Betateilchen sowohl theoretisch als auch experimentell ausgiebig untersucht und kam nur zu dem Schluss, dass die Elektronenzahl in einem Element etwa mit dem dreifachen Atomgewicht übereinstimme.
Nach diesen ersten Erfolgen schrieb Niels an Harald: "Vielleicht habe ich ein wenig über die Struktur von Atomen herausgefunden. Sollte ich richtigliegen, wäre es kein Vorschlag in der Art einer Möglichkeit (sprich Unmöglichkeit wie im Fall von J.J. Thomsons Theorie), sondern vielleicht ein kleines Stück Realität" [1].
Bei den anderen Themen, die Bohr mit Rutherford diskutierte, hielt er sich dennoch an Thomsons Ansatz: Die periodischen Eigenschaften der Elemente ergeben sich durch Stabilitätsanforderungen an ihre Ringstrukturen, und die Atome in einfachen Molekülen werden durch den Austausch von Elektronen zusammengehalten.
Um mit seinen Berechnungen voranzukommen, stellte Bohr in Analogie zu Plancks Strahlungstheorie eine Ad-hoc-Hypothese auf: Verhält sich die kinetische Energie eines Elektrons proportional zu seiner Bahnfrequenz, darf es weder Energie abstrahlen noch in instabile Schwingungen geraten. Die Proportionalitätskonstante sollte dabei ein Bruchteil des planckschen Wirkungsquantums h betragen.
Die Balmer-Serie
Zwischen Juli und November 1913 veröffentlichte das in London ansässige "Philosophical Magazine" Bohrs dreiteilige Schrift über den Aufbau von Atomen und Molekülen. Der zweite und dritte Teil, in denen es um die periodische Anordnung der Elemente und um Molekülbindungen ging, dokumentieren Bohrs wissenschaftliche Verbindung zu Thomson. Allein hätten sie nicht für Aufmerksamkeit gesorgt oder gar eine Revolution ausgelöst. Der erste Teil über das Spektrum von Wasserstoff – mit dem Bohr sich vor Februar 1913 noch nie befasst hatte – macht seine "Trilogie" allerdings unvergesslich.
Johann Jakob Balmer hatte sich 1885 eine einfache arithmetische Formel ausgedacht, um die Frequenzen einer Reihe von Wasserstofflinien zu beschreiben. Ein Kollege wollte von Bohr wissen, wie er sich diese so genannte Balmer-Formel erklärte. Diese Spektren seien zu kompliziert für sein Modell, antwortete Bohr, aber er wolle trotzdem einen Blick darauf werfen. Wie er später berichtete, sah er sofort, wie er in dem sechs Monate zuvor präsentierten Modell das Verhältnis von kinetischer Energie zu Bahnfrequenz berechnen könnte (siehe "Bohrs Schlüssel zur Mikrowelt").
Das frühe Modell beschrieb nur einen Grundzustand, in dem sich – per Definition – die Elektronen sämtlicher Energie, die sie naturgemäß abstrahlen durften, entledigt hatten. Warum Atome verschiedene Frequenzen emittieren, ließ sich damit nicht erklären. Bohr konnte den Bezug zur Balmer-Formel so schnell herstellen, da er um Neujahr herum sein Modell erweitert hatte. Triebfeder dafür war eine bemerkenswerte Serie von Publikationen des mathematischen Physikers John William Nicholson, den er in Cambridge getroffen hatte.
Nicholson hatte die Frequenzen vieler bisher nicht zugeordneter Linien in den Spektren von Sonne und Gaswolken mit den Schwingungen von Elektronen senkrecht zur Bahnebene verglichen. Dabei ging er ebenfalls von einem Atom mit einem zentralen Kern aus. Im Gegensatz zu Schwingungen in der Ebene können solche senkrecht dazu auch stabil sein. Indem er aus den Spektren auf die Rotationsfrequenz der Elektronen schloss, konnte er ihre Drehimpulse berechnen. Demnach entsprach der Drehimpuls der von ihm betrachteten Elektronen jeweils ziemlich genau einem ganzzahligen Vielfachen von h/2π.
Nicholsons Ergebnisse folgten dem Tenor der Conseil de Physique Solvay von 1911 – der Konferenz, auf der Planck, Rutherford, Albert Einstein, Hendrik Antoon Lorentz und andere Koryphäen sich über Probleme in der Strahlungstheorie austauschten. Die Diskussion konzentrierte sich auf Plancks Konzept der Energiequanten: Materieteilchen, die Strahlung sowohl emittieren als auch absorbieren, betrachtet er als einfache harmonische Oszillatoren. Die Energie dieser Oszillatoren darf nur einem ganzzahligen Vielfachen ihrer Frequenz entsprechen. Und erst wenn die Eigenfrequenz des Oszillators mit derjenigen der Strahlung (ν) übereinstimmt, kann er Strahlung emittieren oder absorbieren – und zwar nur in Energiepaketen (E = hv) oder Quanten.
Die Balmer-Formel beschreibt einige Linien im Wasserstoffspektrum mit Hilfe einfacher Algebra: vn=R (1/22 – 1/n2), wobei vn den Kehrwert der Wellenlänge der n-ten Balmer-Linie darstellt und R die Rydbergkonstante – zu Ehren des schwedischen Physikers Johannes Rydberg, der die Balmer-Formel auf Elemente jenseits von Wasserstoff erweiterte.
Angeregt durch Max Plancks Strahlungstheorie wandelte Niels Bohr die Formel in eine Energiegleichung um, indem er beide Seiten mit dem planckschen Wirkungsquantum h multiplizierte. Er interpretierte den zweiten Term, -Rh/n2, als die Energie eines Elektrons im n-ten Zustand. Der erste Term müsste dann die Energie des zweitniedrigsten Zustand (n = 2) beschreiben. Die Formel könnte demnach so verstanden werden, dass eine Balmer-Linie beim Übergang eines Elektrons vom n-ten auf das zweitniedrigste Energieniveau entsteht.
Um die Rydbergkonstante R zu berechnen, setzte Bohr die Energie des n-ten Zustands, -Rh/n2, mit dem Ausdruck gleich, den er für die kinetische Energie Tn eines Elektrons gefunden hatte, das in seinem quantisierten Atom um den Kern kreist: Tn=2π2me4/h2n2, wobei E und m die Ladung und Masse des Elektrons sind. Auf diese Weise konnte Bohr die Rydbergkonstante R mit Hilfe von Naturkonstanten charakterisieren.
Da die von Nicholson gefundenen Übereinstimmungen erstaunlich gut waren und sein Modell – wie das von Bohr – von einem Atomkern und von diskreten Bahnen ausging, musste Bohr es ernst nehmen. Da es ihm immer noch widerstrebte, Spektren zu untersuchen, nutzte er lieber seine Vorstellungskraft: Ein gebundenes Elektron könnte eine Reihe von angeregten Zuständen besetzen, und wenn es von dort gen Kern und Grundzustand hinabstieg, sollte es Energie in der von Nicholson beschriebenen Weise abstrahlen.
Bohr führte fortlaufende Nummern (n) in sein Modell ein, um die stufenweise ansteigenden Elektronenenergien zu berücksichtigen. Die kinetische Energie der n-ten Bahn sei nun proportional zum n-Fachen der Umlauffrequenz, so seine Idee. Auf diese Weise erhielt er nicht nur den von Nicholson gefundenen Drehimpuls, sondern zusätzlich auch einen exakten Wert für die Proportionalitätskonstante von h/2. Durch diese Vorarbeit hatte Bohr eine auf ganzen Zahlen basierende Folge im Kopf, als er die Balmer-Formel flüchtig betrachtete.
Mit der Beziehung E = hv verwandelte Bohr Arithmetik in Physik: Er multiplizierte die Balmer-Formel mit dem planckschen Wirkungsquantum h und erhielt so eine Energiegleichung. Durch die entsprechenden Terme in der abgeänderten Formel gelang es Bohr, die kinetische Energie der verschiedenen Zustände zu bestimmen. Auf diese Weise konnte er einen als Rydberg-Konstante bekannten Parameter in der Balmer-Formel ableiten, charakterisiert durch das plancksche Wirkungsquantum sowie Ladung und Masse des Elektrons.
Die erfolgreiche Berechnung der Rydberg-Konstante verlangte große Opfer von den Physikern. Denn demnach würden die Balmer-Linien entstehen, wenn ein Elektron von einem höheren in den zweitniedrigsten Orbit springt – mit dem damaligen Wissen über die Physik schien das unerklärlich. Rutherford bemerkte das sofort: Um bei der entsprechenden Frequenz zu "schwingen", müsste ein Elektron bereits vor seinem Absprung wissen, wo es zu landen hat. Er war nicht bereit, den Elektronen eine solche Voraussicht zuzugestehen oder die Frequenzen ohne Schwingungen zu erklären.
Bohr entgegnete, dass Physiker sich davon "lossagen" – ein von ihm häufig verwendetes Wort – müssten, bestimmte Prozesse in der Mikrowelt exakt beschreiben zu wollen.
Einstein nahm einen noch größeren Verlust wahr. Planck hatte die Frequenzen von abgestrahltem Licht und mechanischen Schwingungen gleichgesetzt. Dies war möglich, weil die Frequenz eines einfachen harmonischen Oszillators unabhängig von seiner Energie ist. Die Schwingungen des Strahlers regten den "Äther" – oder das Strahlungsfeld – direkt an. Doch die von Bohr vorgeschlagenen Sprünge umfassen zwei Elektronenbahnen mit verschiedenen Perioden. Die Frequenz des emittierten Lichts konnte damit nicht den Bewegungen des Elektrons entsprechen, die das Licht eigentlich erzeugen sollten. Das widersprach den Konzepten, mit denen Physiker für gewöhnlich solche Strahlung beschrieben.
Sein Verantwortungsbewusstsein bewegte Bohr dazu, das grundlegende Postulat seines Atommodells – das Verhältnis von kinetischer Energie und Umlauffrequenz im n-ten Zustand ist proportional zu nh/2 – weiter zu untermauern. Keine leichte Aufgabe. Der erste Teil seiner Trilogie enthält vier verschiedene und weit gehend widersprüchliche Versuche.
Zwei von ihnen entwickeln eine Analogie zu Plancks Strahlungstheorie, die die Form von Bohrs Postulat vorgibt. Der dritte Ansatz ist ganz anders. Es fordert, dass bei Sprüngen zwischen sehr großen, benachbarten Bahnen – in denen die Elektronen nahezu frei vom Kern sind – die Strahlungsfrequenz asymptotisch gleich der Frequenz der Bahnen ist, die sich wiederum asymptotisch gleichen. Dies greift Bohrs Korrespondenzprinzip vor, nach dem an einem bestimmten Punkt die Berechnungen einer physikalischen Größe sowohl in der klassischen Physik als auch in der Quantentheorie dasselbe numerische Ergebnis liefern.
Ende 1913 hatte Bohr die plancksche Idee als "irreführend" aufgegeben (das Atom sei kein einfacher harmonischer Oszillator) und übernahm das Korrespondenzprinzip als bevorzugten theoretischen Unterbau. Er hielt auch am vierten Ansatz fest, an den man sich als einzigen heute noch erinnert: die Quantisierung des Drehimpulses (dies folgt aus dem grundlegenden Postulat, indem man das Verhältnis von kinetischer Energie zu Bahnfrequenz durch sein mechanisches Äquivalent ersetzt, π mal Drehimpuls). Damit stellte er eine Bedingung an die Umlaufbahn, was den vierten Ansatz konzeptionell von den anderen drei unterscheidet. Letztere stellen einen Zusammenhang zwischen den Elektronenbahnen und der Strahlung her, die Elektronen bei ihrem Quantensprung emittierten.
Offen für Mehrdeutigkeit
Bohrs Fähigkeit, mehrere widersprüchliche Ideen zu verfolgen, und sein Mut, große Opfer von Physikern wie Einstein, Planck und Lorentz zu fordern, sind atemberaubend. Wir wissen, dass es ihm nicht an Selbstvertrauen mangelte. Außergewöhnlicher Mut ist die eine Sache, Ambiguitätstoleranz eine ganz andere.
Der Briefverkehr mit seiner engsten Familie, vor allem Margrethe, lässt Ursachen für diese Toleranz erahnen. Lange bevor er sich mit der Quantennatur des Atoms auseinandersetzte, hatte Bohr eine Lehre von multiplen Teilwahrheiten entwickelt, von denen jede ein bisschen real war und alle zusammen vielleicht die Realität wiedergaben. "Es gibt so viele verschiedene Wahrheiten", schrieb er an Margrethe. "Ich denke, dass alles, was von Wert ist, wahr ist. Das könnte ich fast als meine Religion bezeichnen" [1].
In Bohrs bahnbrechender Analyse der Balmer-Linien findet sich die Teilwahrheit von Plancks Strahlungstheorie und die Teilwahrheit der klassischen Physik. Bohr verdankt seine Idee der Teilwahrheiten zumindest stückweise den Schriften seines Philosophieprofessors Harald Høffding und William James' 1907 veröffentlichtem Werk "Pragmatismus", das Bohr vermutlich über Høffding kannte.
Bisher unzugängliche Briefe an Familienmitglieder, die teilweise im kommenden Monat von Finn Aaserud und mir im Buch "Love, Literature, and the Quantum Atom" [1] veröffentlicht werden, eröffnen neue Richtungen, in denen sich diese Verbindung erforschen lässt. Bisher haben Historiker und Philosophen darüber nur auf der Grundlage der späteren und schwächeren Hinweise in Bohrs Komplementaritätsprinzip spekuliert.
Zwischen den Phasen, in denen sein Mut überschwang und sein Blut kochte, neigte Bohr – wie wohl alle gewöhnlichen Menschen – durchaus auch an Selbstzweifeln. Wie ihr Briefwechsel zeigt, spielte Margrethe eine wichtige, vielleicht sogar zentrale Rolle dabei, Niels Stimmungsschwankungen zu besänftigen und ihm zu versichern, dass er tatsächlich der große Mann sei, für den ihn seine dänischen Förderer hielten.
In vielen Briefen bittet Bohr sie darum, ihn dabei zu unterstützen, seine Schulden zu bezahlen. Denn er fühlte sich verpflichtet für sein großes Talent, für den Zuspruch, den er erhalten hatte, um es zu entwickeln, und vielleicht für die neuen Perspektiven in England. Diese Schulden könnte er nur durch große Taten begleichen. Er machte eine große Anzahlung an diese imaginären Gläubiger – darunter Thomson und Rutherford – mit seiner revolutionären Quantisierung des Atoms im Jahr 1913.
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