Freistetters Formelwelt: Die seltsamen Sterne der Henrietta Swan Leavitt
Der Stern, der unser Bild vom Universum dramatisch verändern sollte, trägt die Bezeichnung »V1«. Der Himmelskörper befindet sich in der Andromedagalaxie, die man zur Zeit seiner Entdeckung Anfang des 20. Jahrhunderts noch »Andromedanebel« nannte. Denn die Astronomen waren sich damals nicht einig darüber, wie groß das Universum tatsächlich war. Manche dachte, die neblig verschwommenen Objekte wie ebender Andromedanebel seien tatsächlich nur große Gaswolken innerhalb unserer eigenen Galaxie, die das gesamte Universum ausmacht. Andere hielten die Nebel für enorm weit entfernte Ansammlungen von Sternen, ähnlich wie die Milchstraße selbst. Ihrer Ansicht nach war der Kosmos viel größer, hauptsächlich leer und bevölkert von »Sterneninseln« wie der Milchstraße oder der Andromedagalaxie.
Der Streit war durch Beobachtungsdaten nicht beizulegen. Niemand war in der Lage, die Entfernung der entsprechenden Sterne in den Nebeln zu messen. Der Durchbruch gelang, weil die amerikanische Astronomin Henrietta Swan Leavitt im Jahr 1912 diese Formel aufstellte:
MV ist die visuelle Helligkeit eines Sterns, und zwar die so genannte »absolute Helligkeit«. Sie lässt sich nicht direkt aus den Beobachtungen bestimmen; von der Erde aus sehen wir immer nur die »scheinbare Helligkeit«. Um zu wissen, wie hell ein Stern tatsächlich leuchtet, müssen wir gleichzeitig seine Entfernung kennen – und das war genau das, was damals nur bei nahen Sternen möglich war. Leavitt katalogisierte während ihrer Arbeit an der Sternwarte des Harvard College jede Menge Sterne, die ihre Helligkeit periodisch verändern. Dabei stieß sie auf einen Zusammenhang zwischen der Periode P (die in der Formel oben in Tagen angegeben werden muss) und der absoluten Helligkeit.
Eine leere Welt voller Sterneninseln
Für so genannte klassische »Cepheiden«, also Sterne, die ihre Helligkeit im Verlauf einiger Tage ändern, konnte sie die oben angeführte Formel ableiten. Demnach lässt sich aus der direkt beobachtbaren Periode der Helligkeitsänderung die nicht beobachtbare absolute Helligkeit berechnen. Das ist, wie wir mittlerweile wissen, deswegen möglich, weil die Dauer der Periode direkt von den Vorgängen im Inneren des Sterns abhängt, die wiederum Auswirkungen auf dessen Leuchtkraft und damit die Helligkeit haben.
Leavitt starb im Jahr 1921 und konnte nicht mehr miterleben, wie ihre Formel unseren Blick auf das Universum veränderte. Das gelang Edwin Hubble erst 1923, als er im Andromedanebel ein paar veränderliche Sterne entdeckte und ihre Perioden messen konnte. »V1« war einer davon; mit Leavitts Formel konnte er dessen Entfernung berechnen. In den folgenden Jahren beobachtete er noch ein paar Dutzend weitere Cepheiden im Andromedanebel und gab die Resultate seiner Berechnungen schließlich 1925 bekannt: Der Nebel ist 900 000 Lichtjahre entfernt und eine eigene Galaxie. Er ist nicht Teil der Milchstraße, sondern liegt außerhalb davon.
Mittlerweile wissen wir, dass der Zusammenhang zwischen Leuchtkraft und Periode ein wenig komplexer ist, als Leavitt beziehungsweise Hubble damals annahmen. Es gibt unterschiedliche Typen veränderlicher Sterne, die sich unterschiedlich verhalten, und man muss auch berücksichtigen, in welchem Bereich des elektromagnetischen Spektrums man die Helligkeitsänderung beobachtet. Die Perioden-Leuchtkraft-Beziehung muss entsprechend kalibriert werden – aber wenn man das macht, hat man ein Werkzeug, um Entfernungen auch noch bis zu Distanzen von einigen Millionen Lichtjahren zu messen.
Laut kalibrierten Messungen ist die Andromedagalaxie 2,5 Millionen Lichtjahre weit entfernt. Wir haben aber auch schon Galaxien beobachtet, die einige Milliarden Lichtjahre weit weg sind. Unser Universum ist unvorstellbar groß; und wie groß es ist, haben wir das erste Mal dank der Formel von Henrietta Swan Leavitt verstanden, die in diesem Jahr übrigens ihren 150. Geburtstag gefeiert hätte.
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