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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Primzahlen brechen mit jeder Intuition

Eine Vermutung zur Zerlegbarkeit von Zahlen gilt in der Fachwelt als mahnendes Beispiel. Jahrzehntelang schien sie richtig zu sein, auch wenn ein Beweis fehlte. Dann machte die Zahl 906 150 257 Mathematikern einen Strich durch die Rechnung.
Zahlen
Manche Beobachtungen zeigen extrem eindringliche Muster – doch nicht immer bleiben diese bestehen.

In der Mathematik gibt es viele unbewiesene Vermutungen. Bei den meisten von ihnen gehen die Fachwelt davon aus, dass sie stimmen – auch wenn sie noch keinen Beweis gefunden hat. Ein Beispiel dafür ist die Collatz-Vermutung, die bisher für alle Zahlen von eins bis 3·1020 überprüft wurde. Ähnlich verhält es sich mit der riemannschen Vermutung, die von der Verteilung der Primzahlen auf dem Zahlenstrahl handelt und inzwischen als eines der wichtigsten offenen Probleme des Fachs gehandelt wird. Die Vermutung wurde bereits für Abermilliarden Zahlen überprüft, ohne einen Ausreißer zu finden.

Doch nur, weil man ein bestimmtes Muster sehr oft beobachtet, heißt es nicht, dass es nicht irgendwann doch zusammenbricht. Eine berühmte Vertreterin solch eines Falls ist die Vermutung von Pólya. Sie gilt in der Fachwelt als mahnendes Beispiel dafür, dass man sich niemals zu stark auf seine Beobachtungen und Intuition verlassen sollte.

Von der Rolle, die seine Vermutung annehmen würde, ahnte der ungarische Mathematiker George Pólya zunächst nichts. Er widmete sich Anfang des 20. Jahrhunderts wie viele seiner Kollegen der riemannschen Vermutung. Da deren Beweis selbst aber außer Reichweite zu sein schien, untersuchte Pólya, welche anderen Probleme damit zusammenhängen. Seine Hoffnung war es, eine Aussage zu finden, aus der die riemannsche Vermutung folgen würde: In diesem Fall würde ein Beweis der Aussage gleichzeitig die riemannsche Vermutung lösen.

Die riemannsche Vermutung

Seit mehr als 160 Jahren zählt die riemannsche Vermutung zu einem der härtesten Probleme der Mathematik. Weltweit versuchen sich immer wieder etliche Personen an einem Beweis, doch bisher sind alle gescheitert.

Bernhard Riemann war einer der wichtigsten Mathematiker der letzten Jahrhunderte, der die Gebiete der Analysis, der Differentialgeometrie und der Zahlentheorie vollkommen veränderte. In seiner 1859 erschienenen Arbeit »Über die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Größe« formulierte er seine berühmte Vermutung. Dies war seine einzige Veröffentlichung im Bereich der Zahlentheorie – und dennoch zählt sie bis heute zu einem der bedeutendsten Werke dieser Disziplin.

Da Riemann hauptsächlich auf dem Fachgebiet der Analysis tätig war, die sich häufig mit stetigen oder differenzierbaren Funktionen beschäftigt, wählte er auch einen solchen Ansatz, um die Verteilung der Primzahlen zu studieren. Durch Riemanns Arbeit fanden Mathematiker später heraus, dass Primzahlen in kleinen Bereichen des Zahlenstrahls zwar willkürlich verstreut sind, aber asymptotisch (also für Intervallgrößen, die gegen unendlich gehen) regelmäßig erscheinen.

Diese Ordnung spiegelt sich in der von Riemann gefundenen Primzahlfunktion π(x) wider, welche die Anzahl aller Primzahlen bestimmt, die kleiner als eine gegebene Anzahl x sind. Die Funktion hängt von der so genannten Zeta-Funktion ζ ab, die Leonhard Euler bereits 1737 eingeführt hatte. Die Primzahlfunktion ist nicht exakt – die Verteilung der Primzahlen schwankt um einen Wert, der durch die Nullstellen der Zeta-Funktion bestimmt ist. Anders ausgedrückt: Kennt man all die Werte z, für die ζ(z) gleich null ist, kann man daraus sehr genau auf die Verteilung der Primzahlen schließen.

Riemann fiel bereits in diesem Aufsatz auf, dass die Nullstellen der Zeta-Funktion einem bestimmten Muster zu folgen scheinen. Das Muster entdeckte er aber erst, nachdem er die von Leonhard Euler definierte Funktion erweitert hatte: Anstatt sie nur mit den gewöhnlichen reellen Zahlen zu speisen, setzte er auch komplexe Zahlen ein, die Wurzeln aus negativen Zahlen enthalten. Schnell stieß Riemann auf »triviale« Nullstellen: Er zeigte, dass die Zeta-Funktion für alle negativen geraden Zahlen verschwindet. Allerdings besitzt sie weitere Nullstellen, die alle auf einer Geraden zu liegen scheinen, überall dort, wo der reelle Anteil einer Nullstelle der Zeta-Funktion den Wert 1⁄2 hat. Diese Beobachtung ging als »riemannsche Vermutung« in die Mathematikgeschichte ein.

Als der Mathematiker David Hilbert von der Universität Göttingen im Jahr 1900 am internationalen Mathematikerkongress in Paris seine berühmte Rede zu den zehn wichtigsten offenen Problemen der Mathematik hielt, gehörte dazu die riemannsche Vermutung. Von ursprünglich zehn Problemen seiner Liste sind inzwischen acht zumindest teilweise gelöst – doch bei der riemannschen Vermutung gab es bisher kaum Fortschritte.

Anlässlich des 100. Jahrestags von Hilberts prägender Rede formulierte das Clay Mathematics Institute zur Jahrtausendwende sieben »Millennium-Probleme«, deren Lösung mit jeweils einer Million US-Dollar belohnt wird. Darunter ist die riemannsche Vermutung. Das Preisgeld erhält man aber nur für einen Beweis. Liefert man ein Gegenbeispiel, das heißt eine Nullstelle, die nicht auf der erwarteten Geraden liegt, geht man leer aus. Neben den gescheiterten Versuchen eines Beweises haben Mathematiker mit enormer Rechenleistung bisher mehrere Milliarden dieser Nullstellen berechnet, und keine wich von der vorhergesagten Geraden ab.

Und tatsächlich wurde Pólya 1919 fündig: Er stellte fest, dass die riemannsche Vermutung zwangsläufig wahr ist, wenn ein anderes mit Primzahlen verbundenes Problem zutrifft. Letzteres besagt, dass die meisten natürlichen Zahlen eine ungerade Anzahl von Primteilern haben. Diese inzwischen als Vermutung von Pólya bekannte Aussage beschäftigte die Fachwelt mehrere Jahrzehnte.

Wie viele Primteiler hat eine Zahl?

Zunächst einmal fällt auf, dass die Vermutung – verglichen mit der riemannschen Vermutung – auf den ersten Blick recht simpel wirkt. Jede natürliche Zahl lässt sich als Produkt von Primzahlen zerlegen, den Grundbestandteilen der Zahlentheorie. Zum Beispiel ist 27 = 3·3·3 und besitzt demnach drei Primteiler. Schnell trifft man aber auch auf Beispiele, die eine gerade Anzahl von Primteilern haben: 10 = 2·5, 24 = 2·2·2·3 und so weiter. Doch wenn man eine Zahl n wählt und ermittelt, wie viele der Zahlen zwischen 1 und n eine gerade und eine ungerade Anzahl an Primteilern besitzen, dann überwiegen letztere entweder – oder es gibt gleich viele Zahlen mit einer geraden und ungeraden Anzahl an Primteilern. Laut der Vermutung wird allerdings aber niemals eine Zahl n finden, für die es im Intervall von 1 bis n mehr Zahlen mit einer geraden Anzahl von Primteilern gibt.

Im Intervall von eins bis fünf gibt es beispielsweise zwei Zahlen mit einer geraden und drei mit einer ungeraden Anzahl von Primteilern. Betrachtet man hingegen alle natürlichen Zahlen bis 10, findet man fünf mit einer geraden und fünf mit einer ungeraden Anzahl von Primteilern. Berücksichtigt man die ersten 15 Zahlen, nehmen die Werte mit einer ungeraden Anzahl von Primteilern wieder Fahrt auf: Es steht 8 zu 7.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Um solche Vergleiche übersichtlicher zu gestalten, nutzte Pólya die so genannte Liouville-Funktion L(n). Diese gibt für eine Eingabe n den Wert eins zurück, falls n eine gerade Anzahl an Primteilern besitzt; andernfalls liefert sie den Wert minus eins. Um Polyás Vermutung zu überprüfen, muss man also die Funktion L(n) für verschiedene Werte von n summieren: L(1) + L(2) +L(3) + … Wenn die Vermutung wahr ist, müsste das Ergebnis der Summe – egal wie viele Summanden man mit einbezieht – stets einen negativen Wert oder null liefern, wäre aber niemals positiv.

Und tatsächlich schien die Vermutung zuzutreffen. In den Jahren nach Pólyas Veröffentlichung prüften Fachleute sie für hunderttausende Zahlen. Damals gab es noch keine Computer oder Taschenrechner, und entsprechend aufwändig war das Unterfangen. Doch die Ergebnisse waren eindeutig: Stets lieferte die Summe einen negativen Wert oder null. Wenn man sich den Verlauf der summierten Liouville-Funktion für die ersten paar Millionen Zahlen ansieht, erkennt man, dass sie immer wieder ruckartig ansteigt und dann wieder sinkt – doch insgesamt scheint der Trend nach unten zu führen.

Summierte Liouville-Funktion | Der Graph der summierten Liouville-Funktion ist für die ersten zehn Millionen Zahlen (und darüber hinaus) niemals im positiven Bereich, wie es die Vermutung von Pólya vorhersagt.

Fast 40 Jahre lang bestand die Hoffnung, dass die Vermutung von Pólya dazu genutzt werden könnte, endlich die riemannsche Vermutung zu lösen. Aber auch das von Pólya formulierte Problem erwies sich als hartnäckig. Niemandem gelang ein stichhaltiger Beweis. Wie sich herausstellte, waren alle Bemühungen zum Scheitern verurteilt: Denn die Vermutung von Pólya ist falsch.

Ein Gegenbeispiel lauert in den Tiefen des Zahlenstrahls

Das konnte C. Brian Haselgrove 1958 beweisen: Er zeigte, dass es zwangsläufig eine Zahl n geben muss, für welche die Summe L(1) + L(2) +L(3) … + L(n) größer ist als null. Haselgrove konnte allerdings nicht angeben, wann genau dieser Übergang geschieht. In seiner Arbeit schätze er, n würde in der Größenordnung von 10361 liegen – eine unvorstellbar gigantische Zahl. Selbst mit heutigen Supercomputern lässt sich das nicht direkt überprüfen.

Nun wusste die Fachwelt zwar, dass die Vermutung von Pólya falsch war. Doch die Forschenden fragten sich, für welchen Wert von n die summierte Liouville-Funktion erstmals einen positiven Wert liefert. Die Jagd war eröffnet: Mit dem Aufkommen von Computern durchforsteten Fachleute den Zahlenstrahl auf der Suche nach dem kleinstmöglichen Gegenbeispiel zur Vermutung von Pólya.

1980 wurde der Mathematiker Minoru Tanaka fündig. Für n = 906 150 257 nimmt die summierte Liouville-Funktion zum ersten Mal einen positiven Wert an – und verweilt dann sogar für etliche Zahlenwerte im positiven Bereich. In seiner ursprünglichen Arbeit hatte Haselgrove bewiesen, dass der Graph der summierten Liouville-Funktion im Lauf der Zeit unendlich oft zwischen positiven und negativen Bereichen wechselt.

Gegenbeispiel zu Polyás Vermutung | Betrachtet man die summierte Liouville-Funktion für Zahlen im Bereich von 900 Millionen, dringt der Graph plötzlich in den positiven Wertebereich ein.

Damit sind die wichtigsten Fragen rund um die Vermutung von Pólya beigelegt. Sie dient inzwischen als Paradebeispiel dafür, dass reinen Beobachtungen in der Mathematik nicht ohne Weiteres zu trauen ist – es ist immer ein stichhaltiger Beweis nötig. Auf die riemannsche Vermutung hat Haselgroves Gegenbeweis allerdings keine Auswirkungen: Nur weil die Vermutung von Pólya falsch ist, folgt daraus nicht, dass die riemannsche Vermutung nicht stimmt. Und wer weiß, vielleicht machen Mathematikerinnen und Mathematiker auch in dieser Sache irgendwann eine unerwartete Entdeckung und finden eine gigantische Zahl, die mit dem vorhergesagten Muster bricht.

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