Lobes Digitalfabrik: Die Werbung schaut zurück
Eines der interessanteren (weil vielleicht am wenigsten erwarteten) Phänomene seit Einführung des iPhones 2007 ist, dass der Kaugummiverkauf in Supermärkten eingebrochen ist. Das belegen Zahlen des Marktforschungsinstituts Euromonitor International. Statt die Lockangebote der geschickt am Kassenbereich platzierten "Quengelware" anzuschauen, starren Kunden lieber auf ihr Smartphone. Das wäre wenig erwähnenswert, würden sich durch diesen Perspektivwechsel nicht einige Annahmen der Konsumentenpsychologie verändern. Werbung soll eigentlich ein Blickfang sein, durch besondere Effekte (knalliges Design oder einen flotten Spruch) die Blicke des Zielpublikums auf sich lenken. Doch mittlerweile hat sich die Blickrichtung verändert. Nicht mehr Kunden sehen Werbung an – die Werbung sieht die Kunden an.
Vor ein paar Wochen bemerkte ein Reisender an einem Bahnhof in den Niederlanden, dass bei einer Werbetafel eine versteckte Kamera installiert war. Anschließend lud er ein Foto auf Twitter hoch und stellte die Frage, was der Zweck dieser Videoaufzeichnung sei. Es stellte sich heraus, dass es sich bei den Videokameras um Geräte der britischen Werbefirma Exterion Media handelt, die gleichzeitig der Eigentümer der Werbetafeln ist. Laut einem Blogbeitrag der Medienwissenschaftlerin Els Versluis von der Universität Amsterdam zeichnen die Kameras zwar nicht auf, sind aber mit speziellen Sensoren ausgestattet, die Metadaten über die Performanz der angezeigten Werbung sammeln. Mit Hilfe eines Gesichtsscans könne der Sensor verschiedene Kennzahlen erfassen, zum Beispiel wie lange ein Passant auf bestimmte Punkte der Anzeigefläche schaut. Die automatisierte Gesichtserkennungssoftware ist nach Angaben der Herstellerfirma Quividi in der Lage, die Zahl, Verweildauer und Aufmerksamkeitsspanne der Passanten zu messen und sogar ihr Geschlecht, Alter und ihre Stimmung zu schätzen – allesamt wertvolle Informationen für Anzeigenkunden. Auf der Website ist ein Screenshot der Software abgebildet. Der Algorithmus vermisst verschiedene biometrische Merkmale im Gesicht und erstellt auf Grundlage einer mathematischen Berechnung (die nicht näher erläutert wird) einen Näherungswert für Alter und emotionalen Zustand.
Das Gesicht als Barcode
Der Handel wollte schon immer wissen, welche Produkte ein Kunde anschaut. Starrt er die Schokolade an? Liest er das Kleingedruckte? Auf Websites funktioniert das mit Trackern schon ganz gut. Im stationären Handel dagegen konnte man lediglich die Besucherströme in verschiedenen Abteilungen messen und sich anhand der Absatzzahlen einen Reim auf die Interessen der Kunden machen. Durch die Fortschritte der Informationstechnologie ist es nun möglich, Kunden auch im physischen Raum zu tracken.
So hat etwa die Supermarktkette Real in 41 Testmärkten Gesichtsscanner erprobt, die mittels einer im Bildschirm integrierten Kamera die Blickrichtungen von Kunden erfassten. Der Testbetrieb wurde nach anhaltender Kritik – unter anderem hatte der Verein "Digitalcourage" Strafanzeige erstattet – wieder eingestellt. Zwar betonte Real (wie auch die Herstellerfirmen), dass "keine einzelnen Kunden zuordenbare Persönlichkeitsmerkmale gespeichert oder übertragen" würden, doch das Gesicht ist ein sensibles biometrisches Merkmal. Auch in den Niederlanden gab es nach Bekanntwerden des Falls eine hitzige Debatte über Datenschutz und Privatsphäre. Exterion Media deaktivierte schließlich 50 Kameras, die sie landesweit in Betrieb hatte. Gesichtsausdrücke offenbaren das Innenleben – und gehören zum Privatesten, was der Mensch hat. Doch in Zeiten moderner Überwachungstechnologie ist das Gesicht so exponiert wie nie.
In Großbritannien, wo schätzungsweise sechs Millionen Überwachungskameras installiert sind, wird jeder Bürger im Durchschnitt 70-mal am Tag gefilmt. Am Pekinger Himmelstempel müssen sich Toilettengänger per Gesichtsscan authentifizieren, nachdem es immer wieder zu Toilettenpapier-Diebstählen kam. Und der Kreditkartenanbieter Mastercard lässt seine Kunden per Selfie zahlen. Im Überwachungskapitalismus wird das Gesicht zum Barcode.
Vielleicht war der öffentliche Raum noch nie frei von Beobachtung. Aber mit der omnipräsenten Gesichtserkennung hinterlassen auch unsere Blicke Spuren, die in irgendwelchen Datenbanken gespeichert werden und auf die Werbetreibende über Schnittstellen zugreifen können. Wenn hinter jeder Außenwerbung eine Kamera lauert, wird der öffentliche Raum zum "Panopticon", über dessen Insassen Foucault in seinem Werk "Überwachen und Strafen" (1975) schrieb: "Er wird gesehen, ohne selber zu sehen, er ist Objekt einer Information, niemals Subjekt in einer Kommunikation." Es mag pessimistisch klingen, doch in der Digitalmoderne werden die Blicke zunehmend unfrei.
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