Kolumnen: Drunten
Manche freilich müssen drunten sterben,
wo die Ruder der schweren Schiffe streifen.
Andere wohnen beim Steuer droben,
kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.
(Hugo von Hofmannsthal: "Manche freilich")
Dass die Alltagsrealität eine dünne Tünche ist, die wir über die mürben Tapeten an den Wänden unserer Psyche kleistern, dass die Dielen der Realität, mit denen wir unsere Seelenräume auslegen, morsch und brüchig sind, dass unter ihnen ein dunkler Abyssus gähnt – das ist eine der Einsichten, die melancholisch machen kann. Oder für die eben der Melancholiker prädestiniert ist.
Es geht hier nicht um den objektiven Wahrheitsgehalt der Wahrnehmungsweise des Schwermütigen. Es geht vielmehr darum, diese Wahrnehmung zu illustrieren und zu kommentieren. Sie ist, wie ich denke, eine Voraussetzung für das, was man an der melancholischen Denkungsart mitunter schätzt: ihren Tiefgang, der um den Abgrund unter den dünnen Dielen weiß. Und wenn sie ihn konstruieren müsste, diesen Abgrund.
Denn der Melancholikus – anders als der Depressive – will fallen, will die Abgründe durchmessen. Der Depressive aber wird hineingestürzt. Ein anderes Bild: Melancholie ist wie Bungeejumping. Wenn es gut geht, kommt man mit einer Geschichte mehr wieder hoch. Depression ist Bungeejumping ohne Gummiseil. In beiden Fällen aber ist der Abgrund bodenlos.
Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, zusammen mit einem Fotografen – dem Herrn Hans-Joachim Herr – in solch einen Abgrund hinabzusteigen. Die mentalen Dielen, die den echten Melancholikus von diesen Unterwelten trennen, sind, wie man im Folgenden hoffentlich bemerkt, sehr brüchig. Aber die wirklichen Wände, die diese Räume von unserer Welt abschotten, sind sehr dick. Fünf Meter bester Stahlbeton, aus einer untergegangenen Zeit, die 1000 Jahre dauern sollte. Es ist ein Bunker, weit weg von hier.
Die Pforten meiner melancholischen Reise.
Mag sein. Aber wenn man Türen nur lange genug sich selbst überlässt, dann kann man sehen, dass nicht nur hinter Türen Räume und Wirklichkeiten sind. Selbst in den Türen sind sie. Eine Tür kann sich in sich selbst im Zerfall blättrig öffnen und lauter Zwischenwelten frei legen, die eine blank geputzte ("cleansed") Tür nie zeigen würde. Doors beyond Huxley, gates beyond Blake – Türen, die in sich selber führen.
Hinein zwischen die Türen. Zwischen die Stühle, die niemand mehr besitzt und die – im mürben Zerfall – Platons lichte, abstrakte Ideenwelt in Frage stellen. Gehorcht das noch der Idee des Stuhls? Oder ist es nicht etwas anderes, ganz Unerhörtes, das da zu einer Gestalt kommen will, für die ich keinen Namen habe? Ist das nicht ein Stuhl, der die Idee, einer sein zu müssen, gerade abschüttelt? Wird hier nicht gerade selbst die Idee des "Besitzens" (eines Stuhls, des Besitzens einer Idee von ihm, ja des "Sichniedersetzens" selbst) modrig ad absurdum geführt?
Weiter. Durch Räume, deren Einrichtung der Beobachtung dienten, die nun aber selbst den Eindringling zu beobachten scheinen. Fünffach argusäugig – oder sind es fünf Zyklopen, die hier gemeinsam ihr Reich bewachen? Und wenn das Sein auf der Gegenseitigkeit des Wahrgenommenwerdens beruht – was nehmen diese fünf Zyklopen von mir wahr? Und wer hat den oben links, dessen Auge in trübem, opakem Blau dämmert, geblendet? Ich? Niemand?
Weiter. Vorbei am Triumph des krummsinnigen Chronos über die zimperliche Hygieia. Regimen morborum, eine Anleitung zum Kranksein. Denn freilich ist das hier einst ein reinliches Krankenhaus gewesen; jetzt aber ist es sehr ungesund. Atemschutz.
Weiter, unter niedrigen, schwarzen, steinernen, weinenden Himmeln mit erloschenen Blechsonnen; der Rost der Stahlträger färbt die gefrorenen Tränen braun.
Weiter in Räume, in denen Fäden ziehende Wesen, denen man lieber nicht begegnen will, Spuren hinterlassen zu haben scheinen. Weiter.
"Come with me, I know the way" she says,
"It's down, down, down the dark ladder."
(Joni Mitchell: "Cold Blue Steel and Sweet Fire")
In die Tiefe, die dunklen Leitern hinunter. Das:
war dann der Zenit. Oder besser: der Nadir. Was für ein Raum! Das düstere Seelengefängnis des Melancholikers als bildgewordene Bunkerwirklichkeit. Im Fluchtpunkt braunrostiger Eisenkessel und -rohre, dahin, wo das Auge gezogen wird, in der Bildmitte, erst Leere – und dann die Schemen eines Fensters, das aber weder einen Ausblick zulässt noch zur Belichtung der Lage beiträgt. Vergittert. Ein Fenster, das betrügt, das ein Irgendwo vorgaukelt, wo ein Nirgendwo ist.
Fahles Licht von links, das von noch weiter unten zu kommen scheint. Licht, das selbst so verrottet wirkt wie das, was es beleuchtet. Das Licht selbst hat die Konsistenz der Dinge, die es illuminiert, angenommen. Träge. Schwer. Abgestanden. Müde. Dieses Licht, wenn man es schmecken könnte, es schmeckte schal, wie Rostbrühe. Da unten links, da wo es herkommt, geht es irgendwie weiter ...
Cold Blue Steel and Sweet Fire
Fall into Lady Release
"Come with me I know the way" she says
"It's down, down, down the dark ladder
Do you want to contact somebody first
I mean what does it really matter
You're going to come now
Or you're going to come later."
... oh, ja, ich komm' wieder. Ein andermal, ein letztes Mal dann. Noch weiter nach unten geht immer.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Hans-Joachim Herr ist freier Fotograf in Kronberg im Taunus.
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