Nobelpreise: Ehrenvolles Dilemma
Zwei Wissenschaftlergruppen geben gleichzeitig ein sensationelles Ergebnis bekannt – einen Durchbruch, der unser Weltverständnis grundlegend verändert. Ein Nobelpreis ist in Sicht. Die Regeln der Nobelstiftung fordern allerdings, dass die Ehre auf höchstens drei Kandidaten aufgeteilt werden darf. Das Komitee in Schweden steht nun vor einer schwierigen Entscheidung: Welches der vielen hervorragenden Teammitglieder verdient nun die höchste wissenschaftliche Auszeichnung?
Dieses Szenario passt beispielsweise zur Suche nach dem Higgs-Boson, die gerade einen Höhepunkt erreicht hat. Sie beschreibt aber auch die Situation des Physik-Nobelpreises 2011, als drei Wissenschaftler stellvertretend für zwei Arbeitsgruppen mit insgesamt 51 Forschern dafür ausgezeichnet wurden, die beschleunigte Expansion des Universums aufgedeckt zu haben. Die drei Preisträger verdienten den Nobelpreis. Doch sie haben diese Entdeckung nicht allein gemacht. Viele andere Forscher lieferten ähnlich wichtige Beiträge, doch fehlt ihr Name in der illustren Liste der Laureaten.
Solche Affronts sind nicht neu in der Nobelpreiswelt. So trugen die Physiker Nicola Cabibbo, Makoto Kobayashi und Toshihide Maskawa dazu bei, eine neue Familie von Quarks vorherzusagen; heute nutzen Wissenschaftler die CKM-Matrix für Berechnungen. Doch die eine Hälfte des Physiknobelpreises 2008 wurde nur an Kobayashi und Maskawa vergeben. Im selben Jahr würdigte der Chemienobelpreis drei Forscher für das Grün Fluoreszierende Protein (GFP), das inzwischen ein Standardwerkzeug in der Zellbiologie darstellt. Bei den Laureaten fehlte Douglas Prasher – obwohl er als erster das GFP-Gen kloniert hatte. Als er seine Arbeiten 1992 publizierte, teilte er sein Wissen frei mit zwei der späteren Preisträger, bevor seine eigene Finanzierung auslief. Als der Preis verliehen wurde, arbeitete er als Fahrer für den kostenlosen Shuttleservice eines Autohändlers.
Die Nobelkomitees machen einen grundlegenden Fehler: Sie bestehen darauf, die Auszeichnung an wenige Einzelpersonen zu verleihen, obwohl sich das Wesen der wissenschaftlichen Forschung zutiefst gewandelt hat. Die Hauptarbeit machen heute Teams, nicht Einzelkämpfer. Während noch vor einem Jahrhundert ein Patentamtsangestellter in seiner Freizeit die Relativitätstheorie entwickeln konnte, brauchte es für die Entdeckung des Higgs-Bosons jahrzehntelange Planung und den Einsatz von 6000 Forschern. Keine Einzelperson, nicht einmal ein Dreigespann, hätte die alleinige Ehrung dafür verdient. Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Higgs-Teilchen sind unterschrieben mit "Atlas-Kollaboration" oder "CMS-Kollaboration", und die alphabetische Auflistung der Mitglieder füllt jeweils mehrere Seiten.
Der Nobelstiftung öffnen sich zwei mögliche Auswege aus dem Dilemma: Sie bleibt bei der Ehrung von maximal drei Beteiligten, berücksichtigt aber nicht nur Individuen, sondern auch Organisationen. Der Friedensnobelpreis geht bereits diesen Weg. Die Entscheidungskomitees für die wissenschaftlichen Nobelpreise sind dem noch nicht gefolgt, doch ist es laut Statuten nicht verboten. Ein Nobelpreis, aufgeteilt zwischen Atlas- und CMS-Kollaboration, wäre ein hervorragender Einstieg.
Alternativ – oder sogar zusätzlich – sollte die Nobelstiftung ihre Regeln dahingehend ändern, dass sie den Preis auch an mehr als drei Einzelpersonen vergeben darf. Diese Anpassung würde das Dilemma rund um einen Nobelpreis für die theoretischen Vorarbeiten zum Higgs-Boson lösen: Sechs Wissenschaftler entwickelten im Jahr 1964 den Higgs-Mechanismus, fünf von ihnen leben noch und wären Kandidaten für einen Nobelpreis.
Der Nobelpreis ist in vielen Aspekten ein charmanter Anachronismus. Die Laureaten fliegen nach Stockholm, um dort im Frack mit weißer Fliege die königliche Familie zu treffen. Andere Wissenschaftspreise sind ebenfalls hoch dotiert. Doch noch immer beflügelt der Nobelpreis die Fantasie der Menschen weltweit – und der wissenschaftlichen Gemeinschaft – auf Grund seiner 111-jährigen Sammlung herausragender Wissenschaftler, die ihr Leben der Suche nach Wahrheit und neuen Erkenntnissen verschrieben haben. Seither haben sich die Bedingungen für diese Suche grundlegend verändert. Es ist an der Zeit, dass die Nobelpreise nachziehen.
Der Originalartikel erschien unter dem Titel "Solve the Nobel Prize Dilemma" in der Oktoberausgabe von "Scientific American".
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