Freistetters Formelwelt: Mit mathematischer Lyrik zur Kreiszahl Pi
Wenn wir heute mathematische Texte verfassen oder lesen, dann wundern wir uns nicht mehr über den Gebrauch abstrakter Symbole. Wir sind nicht überrascht, Formeln mit den entsprechenden Zeichen zu finden. Wir wären aber vermutlich sehr verwundert, wenn in einem aktuellen mathematischen Lehrbuch so etwas zu lesen wäre:
Das sieht für uns definitiv nicht wie eine Formel aus. Es ist aber eine, und zwar eine, die dem Ausdruck π = 2827433388233⁄900000000000 entspricht, also einem Wert für die Kreiszahl von 3,14159265359… Immerhin bis zur zehnten Stelle hinter dem Komma korrekt.
Die »Formel« ist die Übersetzung eines englischen Textes (»The logic of non-Western science: mathematical discoveries in medieval India« von David Pingree), der selbst eine Übersetzung aus dem Sanskrit ist. In seiner originalen Form war es ein Vers, den der indische Mathematiker Madhava vor gut 600 Jahren aufgeschrieben hat. Die Götter, Augen und Elefanten entsprechen Ziffern, die zusammengesetzt den Zähler des Bruchs bilden und der Vers aus dem Sanskrit ließ sich vermutlich wesentlich einfacher merken als die lange Zahl.
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Madhava verwendete solche Sprüche und Verse auch bei anderen mathematischen Entdeckungen, die bei der Übersetzung leider ihren ursprünglichen Rhythmus verlieren. Das ändert aber nichts an ihren überraschend modernen Aussagen. Hier ist noch ein Beispiel: Multipliziere den Durchmesser (des Kreises) mit 4 und dividiere durch 1. Dann wende auf das Ergebnis abwechselnd mit negativem und positivem Vorzeichen das Produkt aus dem Durchmesser und 4 geteilt durch die ungeraden Zahlen 3, 5 und so weiter an. Das Ergebnis ist der genaue Umfang; er fällt sehr genau aus, wenn man die Division mehrfach ausführt. (zitiert nach Kate Kitagawa und Timothy Revell, Autoren des Buchs »Die großen Unbekannten der Mathematik«).
Seiner Zeit voraus
Das was Madhava vor 600 Jahren in Indien aufgeschrieben hat, ist nichts anderes als eine unendliche Reihe. Soweit wir wissen, war der Mathematiker aus Kerala der Erste, der auf sie gestoßen ist. Sieht man sich genauer an, was er beschreibt, findet man eine Formel, die heute meist als Leibniz-Reihe bezeichnet wird und den Wert für π⁄4 als unendliche Summe darstellt. Leibniz veröffentlichte sie 1682, aber Madhava fand sie Jahrhunderte früher – und dazu noch diverse andere Reihendarstellungen, zum Beispiel für Sinus, Kosinus und Arkustangens.
Die von Madhava begründete Kerala-Schule hat zwar die Infinitesimalrechnung nicht erfunden, das haben tatsächlich erst Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton im 17. Jahrhundert. Aber in Indien wurden lange vor den mathematischen Entdeckungen in Europa die Grundlagen dieser Disziplin aufgestellt und erforscht. Ohne sich mit Konzepten wie Grenzwerten und ähnlichem zu beschäftigen, kann man mit den unendlichen Reihen nicht umgehen. Und genau diese Gedanken bauten Newton und Leibniz später zur Infinitesimalrechnung aus.
Das soll die Leistung der beiden europäischen Gelehrten keinesfalls schmälern. Es besteht zwar durchaus die Möglichkeit, dass mathematische Ideen über die auch damals schon existierenden Handels- und Informationsrouten aus Indien nach Europa kamen. Es gibt aber keinen Beleg dafür, dass Newton und Leibniz nicht unabhängig davon zu ihren Ergebnissen kamen. Trotzdem muss man festhalten, dass Mathematik keine europäische Erfindung ist. Sie ist zwar in der abendländischen Antike verwurzelt, aber eben nicht nur dort. Die Mathematik war immer schon überall.
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