Medien: Ein Lob der Sperrfrist
Irgendwann am Abend des 16. Oktobers war es soweit: Die kroatische Nachrichtenseite "Znanost" veröffentlichte einen Artikel über den womöglich ersten Fund eines erdähnlichen Exoplaneten in direkter Nachbarschaft unseres Sonnensystems. Via Twitter verbreitete sich die Nachricht rasch über das Internet und erreichte bald auch deutsche Leser, darunter den Astronomieblogger Daniel Fischer, der schließlich das European Southern Observatory (ESO) und die American Astronomical Society informierte: Beide hatten unter Sperrfrist befindliche Pressemitteilungen vorbereitet. Und die beiden Organisationen warnten schließlich Nature, wo das der ganzen Geschichte zugrunde liegende wissenschaftliche Paper – ebenfalls mit Sperrfrist – am Abend des 17. Oktober erscheinen sollte. In einer konzertierten Aktion hoben alle Beteiligten das Embargo auf, so dass jeder über den spektakulären Fund berichten konnte. Weder Nature noch die ESO waren über diesen Sperrfristbruch besonders amüsiert.
Dabei ist das System der Sperrfrist relativ simpel: Jeder Journalist kann sich mit entsprechenden Arbeitsnachweisen bei Nature oder verschiedenen Presseportalen anmelden und erhält dann den Zugriff auf "gesperrte" Publikationen. In der Regel werden diese Artikel drei bis fünf Tage vor dem eigentlichen Erscheinungstag eingestellt und damit den Schreibern zur Verfügung gestellt. Es handelt sich also um nichts Geheimes.
Warum existiert aber diese Sperrfrist, die im Fachjargon als Embargo bezeichnet wird? Zum einen ist sie ein Akt der Fairness: Sie sorgt dafür, dass alle Journalisten prinzipiell unter gleichen Bedingungen arbeiten können – es sei denn, sie erhalten einen Insidertipp eines beteiligten Forschers, dass demnächst eine ihrer Arbeit bei einem renommierten Magazin wie Nature oder Science erscheint. Doch selbst dann bitten die beteiligten Wissenschaftler darum, dass sich die Journalisten an die Sperrfrist halten – was sie in der Regel tun.
Viel wichtiger ist allerdings ein zweiter Aspekt: Die Sperrfrist dient der Qualitätssicherung. Denn sie sorgt dafür, dass es kein Rattenrennen um Nachrichten gibt, weil alle Nachrichtenseiten den vermeintlichen oder tatsächlich bahnbrechenden Entdeckungen hinterherhecheln und möglichst schnell auf ihre Seite bringen möchten. Stattdessen bekommt jeder Wissenschaftsjournalist, der sich auf den entsprechenden Presseseiten angemeldet hat, vorab Einblick in das Paper. Alle können unter den gleichen Bedingungen recherchieren, weitere Expertenstimmen zum Thema einholen und damit die Themen auch kritisch beleuchten.
Ein Beispiel mag das belegen: Vor wenigen Wochen erregte eine Studie des französischen Biologen Gilles-Eric Séralini Aufsehen, der einen Zusammenhang zwischen gentechnisch verändertem Mais und erhöhtem Krebsrisiko bei damit gefütterten Ratten ermittelt haben will. Vor Veröffentlichung wurde nur sehr wenigen ausgewählten Journalisten Einblick gewährt – und ausschließlich unter Zusage, dass sie keine weiteren Wissenschaftler zu den Ergebnissen befragen durften. Die ersten Berichterstattungen machten sich infolgedessen den dramatischen Tonfall der Studie überwiegend unkritisch zu eigen. Doch sehr bald stellten sich massive Zweifel am Aufbau und der Auswertung der Arbeit ein. Mittlerweile wurde die Studie von vielen Wissenschaftlern harsch kritisiert und fachlich zerlegt, doch in weiten Teilen der Öffentlichkeit dürfte der erste Eindruck "Genmais verursacht Krebs" hängengeblieben sein. Viele Autoren wurden also vorab ausgeschlossen, stürzten sich anschließend auf die Nachrichten und vernachlässigten dabei in der Eile auch noch ihre journalistische Pflicht zur kritischen Berichterstattung. Hätte eine größere Zahl an Journalisten Zugang zu dem unter Embargo stehenden Artikel bekommen und entsprechend recherchieren dürfen, wäre der erste Tenor differenzierter ausgefallen: Der Schaden für Wissenschaft und Journalismus wäre sicherlich kleiner ausgefallen oder gar ausgeblieben.
Bei Exoplaneten ist das gesellschaftspolitische Konfliktpotenzial kleiner, aber auch hier tut eine einordnende Berichterstattung not: Im konkreten Fall ist es nicht ausgemacht, dass es sich tatsächlich um einen erdähnlichen Planeten in unserer näheren Nachbarschaft handelt. Artie Hatzes von der Thüringer Landessternwarte beispielsweise äußerte sich in einem zweiten Artikel in Nature (ebenfalls unter Sperrfrist) entsprechend skeptisch. Wiederum gingen diese Stimmen in den ersten Sensationsmeldungen unter, die der vorab veröffentlichten ersten Nachricht nacheilten. Angeschmiert waren erneut die Journalisten, die ausführlicher unter Wahrung des Embargos arbeiten wollten – in der Aufmerksamkeitsrangliste kamen sie zu spät.
Natürlich darf ein Sperrfristbruch keine Entschuldigung für verletzte journalistische Pflichten sein. Gerade im Internetzeitalter setzen jedoch viele Seiten auf Schnelligkeit, damit sie entsprechende Klickzahlen erreichen – Qualitätseinbußen werden dabei in Kauf genommen. Eine allgemein anerkannte Sperrfrist auf wissenschaftliche Veröffentlichungen kann dagegen helfen, das Niveau der Berichterstattung zu erhöhen. Die Leser müssen dabei keineswegs befürchten, dass sie etwas verpassen. Denn im Gegensatz zum Sport oder zur Politik findet in der Wissenschaft ohnehin nur in den seltensten Fällen eine Echtzeitinformation statt: Publikationen in Nature, Science und anderen Journals haben eine Vorlaufzeit von mehreren Monaten, bis sie aus den Labors und Begutachtungsverfahren in die Druckerpressen und Onlineportale sickern. Eine vier- oder achttägige Sperrfrist wirkt sich also nur unmerklich verzögernd aus. Aus Qualitätsgründen sollte das den Lesern wert sein.
Abschließend noch ein Hinweis in eigener Sache: "Spektrum – Die Woche" erscheint aus Sperrfristgründen am Donnerstagabend um 21 Uhr. Denn dadurch können wir auch Neuigkeiten aus Science noch darin vermelden, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht veröffentlicht werden dürfen.
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