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Sex Matters: Ein Plädoyer für lebenslange Sexualkunde

Aufklärungskurse für Erwachsene: Das klingt nicht sonderlich sexy. Doch Körper und Sexualität verändern sich im Lauf des Lebens. Warum nicht an der Volkshochschulkurse darüber aufklären? Eine Kolumne.
Vier Symbole vor rotem Plüsch: Doktorhut, Penis, Spritze, dritte Zähne
Bedarf an Sexualkunde gibt es auch noch in der zweiten Lebenshälfte.

»Meine Freundinnen und ich sind um die 40, und wir alle haben Kinder. Die sind nicht mehr ganz so klein, und eigentlich hätten wir gern wieder mehr Zeit für Zweisamkeit mit unseren Partnern, so wie früher. Aber bei uns allen hat sich irgendwas verändert. Körperlich, aber auch ansonsten. Und wir merken, dass wir keine Ahnung haben, was normal ist. Lieber Herr Müller, können Sie mal einen Abend zu uns kommen und uns aufklären?“ (Silvie, 40, per E-Mail)*

Sex ist überall. Filme, Werbung, Bücher, Internet. Und trotzdem wissen die Menschen nur wenig darüber. Immerhin gibt es Sexualkunde in der Schule, werden Sie jetzt sagen. Schön und gut, aber geht es dort um Lust und Liebe? Eher nicht. Sondern um Gefahrenabwehr: um sexuell übertragbare Krankheiten und darum, ungewollte Schwangerschaften zu verhindern. Doch zu Sexualität gehört viel mehr. Und sie verändert sich im Lauf des Lebens. Aber Sexualkunde für Erwachsene? Oder sogar Kurse an der Volkshochschule? So etwas sucht man vergeblich.

Sexualkunde tut not

Dabei haben eine Menge Erwachsene Schwierigkeiten in ihrem Sexualleben. 45 Prozent der Männer zwischen 18 und 75 Jahren kennen Erektionsprobleme, 71 Prozent der Frauen berichten über Orgasmusschwierigkeiten. Und 76 Prozent der Frauen sowie 57 Prozent der Männer haben zumindest manchmal kein Interesse an Sex. Zum Glück ist das bei den meisten kein Dauerzustand, und nur bei wenigen entsteht daraus Leidensdruck. Doch die Zahlen aus der Studie »Liebesleben in Deutschland« vom Hamburger Institut für Sexualforschung zeigen: Aufklärung tut not. Woher kommen die Probleme, und wie finde ich als erwachsener Mensch zu einer erfüllenden Sexualität?

Dazu braucht es Wissen. Über Fakten – und über den Umgang mit den Veränderungen im Leben. Die Familienplanung ist abgeschlossen, die ersten Erziehungsjahre sind vorbei, die Kinder werden selbstständiger. Aber irgendetwas ist anders. Bloß was? Ist es der Körper, der nicht mehr so will oder kann wie früher? Vielleicht hängt der Busen nach dem Stillen, oder sie nimmt gerade Medikamente, die die Lust mindern. Vielleicht hat der Mann nach zig durchwachten Nächten am Baby-Bett oder wegen beruflicher Sorgen Erektionsprobleme. Und die Zeit für liebevolle Momente, wo soll man die im Alltag eigentlich hernehmen? Gleichzeitig vermitteln die Medien ein ziemlich unrealistisches Bild davon, wie Sex »normalerweise« aussieht: dreimal die Woche, makellose Körper, Penetration. Das ist weit weg vom echten Leben.

Ab den Wechseljahren ist alles vorbei? Das ist Quatsch

Hier würde mein Volkshochschulkurs ansetzen. Zunächst einmal gäbe es eine Palette an nützlichem Wissen über Sexualität in verschiedenen Lebensphasen. Ich würde mit Körperkunde anfangen und mit ein paar Mythen aufräumen. Ab den Wechseljahren ist alles vorbei? Das ist Quatsch. Die hormonelle Umstellung der Frau pendelt sich irgendwann ein, und bei Männern in den Fünfzigern bedeutet ein abfallender Testosteronspiegel keineswegs gleich das Ende der Sexualität. Einen Orgasmus können Männer auch ohne Erektion haben. »Der zweite Frühling kommt mit den dritten Zähnen«, soll der Schauspieler Walter Matthau einmal über das Alter gesagt haben. Da ist etwas dran. Aber nur, wenn Paare die Veränderung als Chance begreifen.

Der wichtigste Teil meiner Aufklärungskurse wäre, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern bewusst zu machen, dass Sex sich entwickelt – ein Leben lang. Wir würden darüber sprechen, dass es in einem Leben mit Kindern ganz normal ist, wenn Sex nicht auf Knopfdruck funktioniert. Dass es vielleicht erst einmal eine gemeinsame Aktivität braucht, ein zärtliches Miteinander, Streicheln, Küsse, liebevolle Worte, damit überhaupt Lust entsteht. Oder dass man sexuelle Aktivitäten, die man früher nur allein gemacht hat, in die Partnerschaft integriert. Neulich sprach ich mit einem Paar, das im Campingurlaub lustvoll miteinander Selbstbefriedigung praktiziert hatte. Weil es für den üblichen Geschlechtsverkehr zu eng und auch zu wackelig war – schließlich schliefen oben im Campingbus die Kinder.

Aber kann man über solche Themen auch in einem VHS-Kurs reden? Mit Fremden? Vielleicht kommt Ihnen das komisch vor. Ich glaube, das funktioniert. In fast allen anderen Lebensbereichen ist es völlig normal, sich weiterzuentwickeln. Wir eignen uns für den Beruf neue Computerprogramme an. Wir lernen, vegetarisch zu kochen, um gesünder zu leben. Und die meisten sind heute bereit, mit einer Psychotherapeutin über psychische Probleme zu sprechen oder mit einem Erziehungsberater eine Familienangelegenheit zu diskutieren. Dagegen muss man in einem VHS-Kurs gar nichts Privates diskutieren. Man kann auf einer sachlichen Ebene über Sexualität sprechen, ohne irgendetwas von sich preiszugeben. Ich selbst rede mindestens 300 Tage im Jahr über Sex, und trotzdem hat danach keiner eine Idee, was ich persönlich zu Hause mache.

Die Freundinnen aus der E-Mail haben sich Aufklärung gewünscht. Inzwischen haben wir einen Termin vereinbart. Ich werde Fragen stellen, die ich oft in meiner Praxis formuliere: Was hat sich für Sie verändert? Und was brauchen Sie, um glücklich zu sein? Die Antworten werden individuell verschieden ausfallen. Und sie werden wahrscheinlich nicht das letzte Mal darüber nachdenken.

Und nun sind Sie dran: Zusammen klug werden

Schreiben Sie sich drei Fragen rund um das Thema Sexualität auf und stellen Sie die Fragen im Freundeskreis, in der Familie oder gegenüber der Partnerin oder dem Partner. Zum Beispiel können Sie sich darüber austauschen, was beim Mann in den Wechseljahren passiert oder welche Möglichkeiten es gibt, die Lust dauerhaft am Leben zu erhalten. Und braucht es eigentlich eine Erektion, um einen Orgasmus zu bekommen?

Suchen Sie gemeinsam nach Antworten. Lesen Sie mehr über Sex im Alltag oder im Alter. Hören Sie zusammen einen Sex-Podcast wie »Ist das normal?«. Oder schauen Sie zusammen Netflix-Serien wie »Sex Education«, »Principles of Pleasure« und »Sex, Explained« und sprechen Sie darüber, was Sie bewegt.

* Der Name im Fallbeispiel ist von der Redaktion geändert.

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