LHC-Nachfolger: Ein Teilchenbeschleuniger ist kein Selbstzweck
Als im Dezember 1994 der Bau des Large Hadron Collider (LHC) beschlossen wurde, war die Sache klar: Entweder würde der weltgrößte Teilchenbeschleuniger am Genfer Kernforschungszentrum CERN das Higgs-Teilchen aufspüren, das erklärt, wieso Elementarteilchen eine Masse haben. Oder die Partikelkollisionen in der unterirdischen Vakuumröhre des LHC würden zeigen, dass es kein Higgs gibt – und damit das bisherige Theoriegebäude der Physiker zum Einsturz bringen.
Beides wäre aus wissenschaftlicher Sicht ein Fortschritt gewesen: Entweder unsere Vorstellung von den Naturmechanismen im Mikrokosmos stimmt, oder die Theoretiker müssen nach ganz neuen Erklärungen suchen. Dieses »no-lose Theorem« kam einem Blankoscheck gleich, verlieren konnte man nicht. Das machte die Entscheidung für den Bau des 27 Kilometer großen LHCs zu einer weitgehend unstrittigen Sache, zumindest aus wissenschaftlicher Sicht.
Neues Teilchen, Jubel, Nobelpreis – so muss es nicht wieder laufen
Der Plan ging bekanntlich auf: 2012 entdeckten Physiker in den Spuren der enorm energiereichen Teilchenzusammenstöße, bei denen für kurze Zeit andere Partikel entstehen können, eindeutige Hinweise auf das Higgs-Teilchen. 2013 erhielten Peter Higgs und François Englert dafür den Nobelpreis. Sie hatten die Existenz des berühmten Partikels in den 1960er Jahren als Erste vorhergesagt.
Wiederholt sich solch eine Erfolgsgeschichte in Zukunft noch einmal? Physiker hoffen sehr darauf – und haben diese Woche Pläne für den nächsten großen Beschleuniger präsentiert: Der 100 Kilometer große Future Circular Collider (FCC) könnte ebenfalls am CERN entstehen und um das Jahr 2040 in Betrieb gehen, berichten Physiker in einer umfassenden Konzeptstudie.
Der Tunnel für den FCC muss allerdings noch gegraben werden. Generell wäre der Beschleuniger eines der größten und ambitioniertesten Wissenschaftsprojekte der Menschheitsgeschichte, zehntausende Forscher aus aller Welt wären beteiligt. Eine erste Kostenschätzung kommt auf 24 Milliarden Euro, die im Lauf von 30 Jahren anfallen und auf viele Nationen verteilt würden.
Welle der Kritik
Noch ist unklar, ob der FCC Realität wird. Er ist nur eine von mehreren Ideen für die Zukunft der Teilchenphysik. Erst in den kommenden Jahren wollen sich die Wissenschaftler festlegen, für welches Projekt sie mit Nachdruck bei Entscheidungsträgern werben wollen. Aber schon jetzt bricht eine Welle der Kritik über die Physiker herein: Viel zu teuer sei das Vorhaben. Und überhaupt habe die Menschheit in den kommenden Jahrzehnten doch ganz andere Probleme, vom Klimawandel bis zur wachsenden Weltbevölkerung. Kurzum: Die Suche nach abstrakten Naturgesetzen sei ein Luxus, auf den man verzichten könne.
Mancher dieser Kritikpunkte ist unangebracht: So sind 24 Milliarden Euro zwar ein gewaltiger Batzen, für ein Projekt dieser Größenordnung (und den Zeitraum, um den es geht) aber keine völlig unangemessene Forderung. Das zeigt zum einen der Vergleich mit dem LHC: Er wird Schätzungen zufolge bis ins Jahr 2025 13,5 Milliarden Euro gekostet haben, die Baukosten beliefen sich auf etwa drei Milliarden Euro. Der FCC wäre, sofern alles nach Plan läuft, nicht wesentlich teurer als der Fusionsreaktor ITER (voraussichtlich 20 Milliarden Baukosten) und sogar deutlich billiger als die Internationale Raumstation (mindestens 150 Milliarden Euro für Bau und Betrieb).
Auch der Verweis auf Projekte zu Klimawandel, Welternährung, Entwicklungshilfe und Umweltschutz greift insgesamt zu kurz: Solche Vorhaben konkurrieren in der Förderlogik von staatlichen Geldgebern nur sehr bedingt mit physikalischer Grundlagenforschung.
Konkurrenz für andere Forschungsprojekte
Wer sich hingegen eher Sorgen machen müsste, sind andere Naturwissenschaftler, insbesondere Physiker, die nicht zum FCC beitragen wollen oder können. Großprojekte wie der LHC oder das James Webb Space Telescope der NASA verhindern in der Regel, dass kleinere Forschungsvorhaben gefördert werden, es setzt eine Monopolisierung ein, die nicht unbedingt im Sinne eines ganzen Forschungsgebiets sein muss.
Viele der Argumente, die Teilchenphysiker für den Bau des FCC vorbringen, sind zudem wenig überzeugend. Beispielsweise der Hinweis darauf, dass die Arbeit an großen Teilchenbeschleunigern praktische Nebeneffekte hat. Zweifellos werden dabei Technologien weiterentwickelt (vom Supercomputer bis zu supraleitenden Magneten), und Scharen junger Physikdoktoranden erhalten eine gute Ausbildung, die anschließend Unternehmen zugutekommen kann. Gerne wird auch darauf verwiesen, dass am CERN das Internet in seiner heutigen Form erfunden wurde.
Ein »no-lose theorem« gibt es diesmal nicht
All das sind jedoch keine wirklich zwingenden Argumente für ein spezifisches Teilchenphysikprojekt wie den FCC. Schließlich gelten sie im Prinzip für alle Vorhaben, in denen naturwissenschaftlich geschulte Menschen mit moderner Technologie große Probleme aus der Grundlagenforschung zu lösen versuchen: sei es nun bei einem Verbund von Radioteleskopen, die ein Schwarzes Loch fotografieren wollen, der Arbeit an abhörsicheren Quantennetzwerken oder der systematischen Untersuchung einer besonders viel versprechenden Materialklasse.
Projekte wie der FCC sollten daher in erster Linie danach beurteilt werden, ob sie die Wissenschaft signifikant voranbringen können. Und die Teilchenphysiker wären gut beraten, hier stets mit offenen Karten zu spielen. Dazu gehört allerdings ein Eingeständnis, das den FCC und vergleichbare Beschleunigerideen zu einer heikleren Förderangelegenheit macht, als es einst der LHC war: Ein »no-lose theorem« gibt es diesmal nicht.
Zwar ist denkbar, dass die Maschine etwas Spektakuläres aufspürt, zum Beispiel die Teilchen, aus denen die Dunkle Materie bestehen könnte, oder etwas völlig Unerwartetes. Ideen gibt es viele, beispielsweise die, dass das Higgs-Teilchen im Detail doch etwas anders aussehen könnte als vom »Standardmodell der Teilchenphysik« – dem etablierten Regelwerk für den Mikrokosmos – vorhergesagt. Solche Abweichungen von der etablierten Theorie könnten dann die Brücke zu einer neuen, noch umfassenderen Theorie für den Mikrokosmos schlagen, die vielleicht auch die Schwerkraft mit einbindet, hoffen Physiker.
Ein zwingendes Argument aus der theoretischen Physik, dass solche Hinweise im Energiebereich des FCC auftauchen müssen, gibt es aber bisher nicht. Beim Higgs hingegen galt es im Vorfeld der Entdeckung als extrem wahrscheinlich, dass es, sofern es wirklich existiert, in der Nähe der bekannten Elementarteilchen auftauchen muss, also im Energiebereich des LHCs.
Für Phänomene jenseits des Standardmodells besteht keine vergleichbare Sicherheit: Physiker halten es sogar für denkbar, dass ihr Regelwerk bis zum kleinsten aller Abstände, der so genannten Planck-Länge bei 10-35 Metern, korrekt die Natur beschreibt. In diesem Fall würde am neuen Riesenbeschleuniger schlichtweg nichts auftauchen, was die Physiker signifikant voranbrächte in ihrem Bestreben, die grundlegenden Gesetze von Raum und Materie zu entschlüsseln. Erst ein Teilchenbeschleuniger von der Größe unserer Galaxie (oder eine völlig neue Beschleunigertechnologie) könnte die nötigen Energien erreichen.
Der FCC könnte also keinen einzigen wissenschaftlichen Durchbruch bringen, kein neues Elementarteilchen, keinen Nobelpreis. Es bliebe nur die Erkenntnis, dass sich bei den Energien, die der Beschleuniger erreicht, nichts Spannendes verbirgt. Das mag eine pessimistische Perspektive sein. Aber es ist eine, die definitiv auf den Tisch muss, wenn über den Bau eines riesigen Beschleunigers entschieden wird, der zwangsläufig auf Kosten anderer Forschungsansätze gebaut und mit Steuergeldern finanziert würde.
Risikoprojekt mit offenem Ausgang
Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Wer in den vergangenen Tagen die Diskussionen unter Teilchenphysikern verfolgte, konnte jedoch ins Zweifeln kommen, ob sie zu allen Physikern durchgedrungen ist. Ein CERN-Physiker erklärte sogar die Gegner des FCC zur Bedrohung für den Fortschritt und argumentierte, es sei völlig in Ordnung, solch ein tolles Projekt gegenüber der Öffentlichkeit ein wenig zu positiv darzustellen.
Als Vertreter eines Berufsstands, der viel Wert auf Rationalität legt, sollten die Forscher das Gegenteil tun. Sie sollten den FCC als das präsentieren, was er ist: als höchst ambitionierte und aufwändige Reise ins Unbekannte, die vielleicht eine Chance hat, Neuland zu entdecken. Damit ist der Riesenbeschleuniger aber eben auch ein Risikoprojekt, das weit weniger spektakuläre Ergebnisse zu Tage fördern könnte als erhofft.
Solche Projekte kann sich die Menschheit von Zeit zu Zeit leisten, trotz aller Probleme – und vielleicht tragen sie am Ende tatsächlich etwas zum Fortschritt bei. Ob es sich dabei aber zwangsläufig um einen riesigen Teilchenbeschleuniger handeln muss, ist keine Entscheidung, die allein Physiker zu treffen haben. Denn so beeindruckend die riesigen Maschinen auch sind: Ein Selbstzweck dürfen sie nicht sein.
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