In Bestform: »EMS kann alle Muskelgruppen gleichzeitig trainieren«
Schon 20 Minuten Training pro Woche sollen genügen, um fit und stark zu werden. Damit werben Anbieter von Elektromyostimulation (EMS) häufig. Klingt verlockend. Doch wie soll das funktionieren? Schmerzen die Stromschläge? Und kann man so wirklich Muskulatur aufbauen? Der Sportwissenschaftler Heinz Kleinöder von der Deutschen Sporthochschule Köln kennt sich mit der Methode aus.
»Spektrum.de«: Was ist ein Training mit Elektromyostimulation
Heinz Kleinöder: Es ist wichtig, die Begriffe Elektromyostimulation und Training zu trennen. Bei EMS wird Strom über die Haut in die Muskulatur geleitet. Das ist aber nicht automatisch ein Training. Training bedeutet: Ich übe bewusst eine Bewegung aus und verfolge damit ein Ziel, zum Beispiel mache ich 20 Kniebeugen, um meine Beinmuskulatur zu kräftigen. Lege ich dabei Strom an, kommen zwei Reize zusammen. Zum einen mein eigener Befehl an die Muskulatur: Ich beuge die Knie, verlagere den Körperschwerpunkt etwas nach hinten und spanne den Oberkörper an. Dazu kommt der EMS-Reiz. Er ist also nur ein Verstärker.
Was passiert, wenn ich keine Übung mache und bloß Strom anlege?
Wenn Sie die Muskulatur nicht anspannen, zucken Sie vermutlich nur unkontrolliert. Sie sind sozusagen fremdgesteuert. Klar ist es interessant, sich mal anzuschauen, wie der Muskel reagiert, wenn ein solcher Impuls kommt. Mit Training hat das aber nichts zu tun. Das Handy eines Kollegen klingelte mal während des Trainings. Er ging ran und entspannte sich offenbar. Als der Stromimpuls kam, flog das Handy im hohen Bogen davon.
Von Sportler zu Sportlern
Heinz Kleinöder spielt drei- bis viermal die Woche Tennis, daneben betreibt er Kraft- und Ausdauertraining. Ab und zu setzt der Sportwissenschaftler auch auf Elektrostimulation: Das helfe, die zum Teil recht einseitige Belastung im Tennis auszugleichen und seiner Muskulatur etwas Gutes zu tun.
Ich muss also konzentriert meine Übungen machen.
Genau. Wenn der Strom kommt, muss ich bereit sein. Manche Menschen denken: Der Strom trainiert meine Muskeln, ich muss gar nichts machen. Aber im Gegenteil: Sie müssen Ihren eigenen Befehl an die Muskulatur mit der Verstärkung durch den Strom abstimmen, die Koordination ist wichtig. Das ist anspruchsvoller, als viele denken. EMS ist kein Training für Faule.
Was passiert dabei genau?
Unser Gehirn sendet über die Nervenbahnen Befehle an die Muskulatur. Durch zusätzliche, externe Stromimpulse kann man die eigenen Bewegungen beeinflussen und intensivieren. Die Muskeln sind letztendlich das ausführende Organ: Hier summieren sich die verschiedenen Impulse auf. Als Reaktion machen Sie eine bestimmte Bewegung oder bauen Spannung im Muskel auf.
»Man kann mit EMS alle Muskelgruppen gleichzeitig trainieren«
Sie sagten, der Stromimpuls wirke wie ein Verstärker. Baue ich mit EMS also schneller Muskeln auf?
Nicht wirklich. Der Muskel ist ein Organ, das sich extrem gut anpassen kann. Erfährt er über eine gewisse Zeit Spannung, wird er dicker, man spricht von Hypertrophie. Diese Muskelaufbauprozesse setzen schon nach dem ersten Training ein. Bis man etwas sieht oder messen kann, muss man allerdings mindestens vier bis acht Wochen trainieren. Das geht durch Elektromyostimulation nicht schneller. Ob Sie mit Hanteln, an einer Maschine oder mit EMS trainieren, ist eigentlich egal. Hauptsache, ein moderater Reiz ist da. Der Muskel ist nicht wählerisch.
Studien zufolge soll EMS besonders effizient sein. Stimmt das gar nicht?
Doch, es geht um die Effizienz. Der EMS-Reiz wird mit dem mechanischen Reiz kombiniert, das spart Zeit. Viele Studien messen aber nicht, wie schnell die Probandinnen und Probanden Muskulatur aufbauen, sondern die Muskelkraft: Sie lässt sich durch Elektromyostimulation steigern. Außerdem kann man mit EMS alle Muskelgruppen gleichzeitig trainieren. Wenn Sie an einem Fitnessgerät oder mit einer Hantel arbeiten, erreichen Sie in der Regel nur eine bestimmte Muskelkette oder ganz bestimmte Muskeln.
Wie darf man sich das konkret vorstellen: Kleben Sportler sich Elektroden auf den gesamten Körper?
Anfangs war das tatsächlich so. Mittlerweile hat sich das verändert. Man zieht eine eng anliegende Weste an, darin sind Elektroden eingebaut. Die adressieren Brust-, obere und untere Rücken- sowie die Bauchmuskulatur. Zusätzlich gibt es Arm-, Bein- und auch eine Gesäßmanschette. Wenn Trainer oder Trainerin dabei behilflich sind, ist man binnen fünf Minuten angezogen und muss nicht erst 20 bis 30 Klebeelektroden anbringen.
Und wenn der Strom fließt: Tut das weh?
Nein. Es handelt sich nicht um einen Stromschlag, sondern um einen Impuls, der fein moduliert werden kann. Wie man das empfindet, ist natürlich individuell verschieden: Der eine spürt nur ein ganz leichtes Kribbeln, für den anderen ist derselbe Impuls viel intensiver. Schmerzen sollte man nicht haben – es sei denn, man möchte das. Manche finden es toll, bis an die Schmerzgrenze zu gehen. Die elektrische Stimulation sollte jedenfalls der dominante Reiz sein.
Wie meinen Sie das?
Der mechanische Reiz darf nicht stärker sein als der elektrische. Ich sollte also nicht mit sehr schweren Gewichten trainieren und dazu noch EMS machen. Meine Kollegen und ich haben eine Richtlinie zur sicheren und effektiven Anwendung von EMS veröffentlicht, von der Gewöhnung bis hin zur Anwendung im Leistungssport.
Wie stark ist der Strom?
Ein EMS-Gerät baut eine Spannung von etwa neun Volt auf – ein Bruchteil von dem, was aus einer normalen Steckdose kommt. Die nötige Stromstärke liegt zwischen 50 und 200 Milliampere und hängt im Wesentlichen von dem Widerstand ab, den der Strom bis zum Muskel überwinden muss. Üblich sind 2 bis 120 Impulse pro Sekunde, entsprechend der natürlichen Frequenz, mit der sich ein Muskel zusammenzieht.
Für welche Profisportlerinnen und -sportler ist EMS denn besonders hilfreich?
Die Einsatzmöglichkeiten sind ganz unterschiedlich. Je nach Impulsfrequenz lassen sich eher die langsamen oder die schnellen Muskelfasern ansteuern. Das ist beispielsweise interessant, wenn man an der Schnellkraft arbeiten möchte. Elektromyostimulation wurde zum Beispiel in der Leichtathletik beim Werfen, Springen oder Sprinten erfolgreich angewendet. Beim Rodeln hat es geholfen, die Startbewegung zu verbessern. Man muss aber genau schauen: Werden die Sportlerinnen und Sportler dadurch besser oder schlechter? Es gibt immer welche, denen es nichts bringt.
Wie sieht es im Freizeitsport aus?
Auch dort lässt sich die Methode gut einsetzen. Es braucht hier keine maximalen Reize, sondern nur ein kurzes, intensives Ganzkörpertraining.
»Für das Training braucht es Fingerspitzengefühl«
Ich habe gehört, statische Übungen seien leichter als dynamische. Stimmt das?
Es ist einfacher, in einer bestimmten Position zu bleiben und auf den Strom zu warten, als sich dabei zu bewegen. Doch um den Trainingserfolg auf andere Sportarten transferieren zu können, sind dynamische Übungen geeigneter. Es muss keine ganze Kniebeuge sein, eine halbe reicht.
Viele Studios werben damit, dass schon eine Einheit à 20 Minuten pro Woche genügt. Klingt zu schön, um wahr zu sein.
Vermutlich lassen sich so mehr Leute anlocken, als wenn zwei Einheiten pro Woche empfohlen werden. Schaut man sich Studien dazu an, kommt immer heraus, dass man zweimal pro Woche trainieren sollte – egal, ob mit oder ohne Elektrostimulation.
Einmal pro Woche bringt also nichts?
Doch, jeder Reiz bewirkt etwas. Eine allgemeine Empfehlung ist aber immer schwierig. Die Menschen sind sehr verschieden, je nach Zusammensetzung von Muskelfasern und Fitnesslevel. Es kommt auch darauf an, was man sonst noch macht. Treibt man jede Menge anderen Sport, kann einmal pro Woche bereits genug sein. Macht man sonst gar nichts anderes, würde ich zweimal empfehlen. Trainiert man dreimal pro Woche mit Elektromyostimulation, ist der Mehrwert bei vielen schon geringer. Muskulatur und Nerven brauchen genügend Zeit zur Regeneration.
Woran erkenne ich einen guten EMS-Trainer oder ein gutes Studio?
Am Feedback der Kundschaft. Für das Training braucht es Fingerspitzengefühl. Allein schon, weil die Schmerzwahrnehmung subjektiv verschieden ist. Einige Trainer und Trainerinnen verstehen nicht, dass manche Menschen nicht genauso fühlen oder genauso fit sind wie sie selbst. Nach dem Motto, das muss so sein. Das ist falsch. Der Strom muss auf die Person und ihre aktuelle Verfassung abgestimmt sein. An unterschiedlichen Tagen kann man denselben Reiz ganz anders empfinden. Hat man beispielsweise nicht genug getrunken, verändert sich die Leitfähigkeit des Gewebes. Dann muss der Trainer ein wenig zurückdrehen. Außerdem sollten nie mehr als zwei Personen gleichzeitig betreut werden.
Gibt es eine Ausbildung für EMS-Trainer und -Trainerinnen?
Keine obligatorische. Häufig haben sie nur einen Wochenendkurs absolviert, der von EMS-Herstellern angeboten wird. In der medizinischen, physiotherapeutischen und sportwissenschaftlichen Ausbildung wird Elektromyostimulation mittlerweile vertieft. Es gibt also durchaus seriöse Anbieter. Kritisch wird es bei selbst ernannten Personal Trainern. Das ist kein geschützter Beruf. Aus diesem Grund hat der wissenschaftliche Beirat für EMS, dem auch ich angehöre, strenge Kontraindikationen festgelegt.
Welche?
Die Liste ist relativ lang, dazu gehören beispielsweise Diabetes, eine Schwangerschaft, akute Infektionen oder Entzündungen sowie diverse Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auch ein Herzschrittmacher ist eine Kontraindikation.
In einer Studie mit herzkranken Patienten kommen Sie aber zu dem Schluss, dass EMS »ein erhebliches Potenzial in der kardiologischen Rehabilitation« hat. Wie passt das zusammen?
Das war eine wegweisende Studie, ganz zu Beginn unserer Forschung. Ziel war es, die Menschen so fit zu machen, dass sie wieder 100 Schritte gehen können. Der Strom hat ihnen geholfen, ihre Muskulatur besser anzusteuern. Natürlich sind die Intensitäten bei dieser Klientel viel geringer als im Leistungssport oder bei Gesunden. Aber eine Brustelektrode sollte dabei nicht verwendet werden.
Kann elektrische Muskelstimulation auch anderen Patientengruppen helfen?
Ja. Die Studienlage ist insgesamt recht gut. Vor allem in der Physiotherapie und in der Rehabilitation ist die Methode vielfach untersucht worden. Zum Beispiel kann man muskulär bedingte Rückenschmerzen gut mit EMS behandeln. Die Impulse lassen sich lokal fein dosieren und dringen mit der richtigen Technik tief in die Muskulatur ein.
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