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Freistetters Formelwelt: Elementare Mathematik

Chemische Formeln verlangen nach ganz anderer Interpretationsarbeit als die mathematischen. Doch dann entpuppen sie sich als nicht minder mächtiges Instrument der Welterklärung.
Chemische Formeln an der Tafel

Mit der Chemie verbindet mich eine zwiespältige Beziehung. In der Schule habe ich kaum etwas über diese Naturwissenschaft gelernt. Nicht, weil ich schlechte Lehrer hatte; mein Chemielehrer war sogar sehr engagiert. Aber da er aus finanziellen Gründen der einzige echte Chemielehrer der ganzen Schule und komplett überlastet war, fand unser Unterricht in den letzten Schuljahren immer spät am Nachmittag statt, wenn weder wir Schüler noch der Lehrer ausreichend aufnahmebereit für neues Wissen waren. Während meines Astronomiestudiums habe ich dann ein paar der chemischen Grundlagen kennen gelernt, aber nichts von den eigentlichen Details dieser faszinierenden Wissenschaft. Und wie faszinierend sie ist, hatte ich mittlerweile mitbekommen. Heute ärgert es mich, dass ich so wenig von der Chemie verstehe, und es ärgert mich auch, dass das Angebot an vernünftiger populärwissenschaftlicher Literatur zu diesem Thema im Vergleich zu anderen Wissenschaften eher dürftig ist. Dabei hätte die Chemie so viel anzubieten.

Das zeigt sich schon an den chemischen Formeln. Es handelt zwar nicht um mathematische Formeln im engeren Sinn; aber was ihre Bedeutung angeht, können sie mit der echten Mathematik problemlos mithalten. Zum Beispiel, wenn es um die scheinbar simplen Reaktionen zwischen Sauerstoff und Stickstoff geht, die durch diese Formeln beschrieben werden:

O2 + N2 ⇌ 2 NO2 NO + O2 ⇌ 2 NO2

In der ersten Formel verbindet sich molekularer Sauerstoff, also ein Verbund aus zwei Sauerstoffatomen, mit molekularem Stickstoff, also einem Verbund aus zwei Stickstoffatomen, zu zwei Stickstoffmonoxidmolekülen, also einem Verbund aus einem Sauerstoff- und einem Stickstoffatom. In dieser Formel braucht es genau die gleiche Menge an Sauerstoff und Stickstoff, damit die Reaktion funktioniert.

Die Reaktion, die in der zweiten Formel beschrieben wird, benötigt zwei Stickstoffmonoxidmoleküle und ein Sauerstoffmolekül, um zwei Stickstoffdioxidmoleküle zu produzieren. Insgesamt reagieren hier also zwei Stickstoffatome und vier Sauerstoffatome miteinander.

Das Erstaunliche an den beiden Formeln ist dem britischen Naturwissenschaftler John Dalton (1766-1844) schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgefallen. Damit eine chemische Reaktion stattfindet, kann das Verhältnis von Stickstoff- zu Sauerstoffatomen nicht beliebig sein. Es reagieren entweder die gleiche Menge von Stickstoff und Sauerstoff miteinander, oder aber die Menge an Sauerstoff ist genau doppelt so groß wie die des Stickstoffs.

Diese Erkenntnis klingt trivial, aber nur, weil wir heutzutage wissen, dass Atome existieren und die Grundlage der Materie bilden. Zur Zeit Daltons hingegen waren Atome höchstens eine interessante Hypothese; ein konkreter Nachweis für ihre Existenz lag in weiter Ferne. Die Tatsache, dass sich die chemischen Elemente Sauerstoff und Stickstoff aber nur in ganz bestimmten und ganzzahligen Verhältnissen miteinander verbinden können, war in dieser Hinsicht bemerkenswert. Sie ergibt nur dann Sinn, wenn die Elemente tatsächlich in Form einzelner Atome vorliegen. Wenn Sauerstoff und Stickstoff keine beliebig unterteilbaren Materialien sind, sondern aus diskreten Einheiten bestehen, dann kann sich eben nur ein Atom mit einem anderen Atom verbinden. Oder zwei Atome der einen Sorte mit einem Atom der anderen. Aber nicht ein Atom Sauerstoff mit einem halben Stickstoffatom oder zwei Drittel der Sauerstoffatome mit einem Fünftel der Stickstoffatome.

Daltons Erkenntnis über die Verbindungen zwischen Stickstoff und Sauerstoff war zwar noch kein echter Beweis für die Gültigkeit der atomaren Hypothese. Aber sie bereitete den Weg für das, was die Physiker in den nächsten Jahrzehnten entdecken sollten.

Die chemische Symbolik und die Formeln der Chemie sind abstrakter als die der reinen Mathematik. Sie sind nicht allein aus der formalen Logik ihrer internen Beziehungen verständlich, sondern benötigen auch naturwissenschaftliches Hintergrundwissen, um korrekt interpretiert zu werden. Aber wenn man auf die richtige Art und Weise mit ihnen umgeht, sind sie ein ebenso mächtiges Instrument, um die Welt zu verstehen wie ihre mathematischen Verwandten.

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