Warkus' Welt: Der verbesserte Mensch
Ich habe ihn seit Anfang Juni, den Chip. Seitdem kann ich Digitalradio hören, wenn ich mir den Finger ins Ohr stecke, und mit meinem Knie kontaktlos bezahlen. Die Brille für die Ferne brauche ich auch nicht mehr.
Wenn Sie auch nur minimal Berührung mit sozialen Medien haben, dann kennen Sie diese Sprüche: So oder so ähnlich haben Tausende über ihre Covid-19-Impfung geflachst, natürlich in Anspielung auf die Theorien Verschwörungsgläubiger, mit dem Impfstoff würden einem sinistre Elektronikbauteile im Nanomaßstab eingepflanzt. Lustig ist das, weil es Quatsch ist. Dass Menschen überhaupt auf diesen Scherz kommen, hat aber damit zu tun, dass die Idee, man könne durch einen eingepflanzten Chip neue Fähigkeiten erlangen, popkulturell gut etabliert ist.
Stellen wir uns vor, es ginge wirklich: Ihr Chip könnte beispielsweise Ihr Gedächtnis so steigern, dass Sie nichts mehr vergessen, was Sie nicht vergessen wollen, sich aber auch an nichts mehr erinnern, an was Sie sich nicht erinnern wollen. Außerdem könnte er verschiedene Zusatzinformationen liefern, so dass Sie zum Beispiel immer auf die Minute genau wissen, wie viel Uhr es gerade ist, und morgens immer rechtzeitig von selbst aufwachen. Über die richtige Weckzeit müssen Sie dabei nicht einmal nachdenken, denn Ihr Chip kennt Ihr Wissen über Ihre Termine, und vergessen können Sie ja keine mehr.
Es bedarf nicht viel Fantasie, um sich klarzumachen, dass jemand, der sich dank eines Chips an alles erinnert und ohne jeden Kampf mit dem Wecker morgens erfrischt und pünktlich aus dem Bett hüpft, in zahlreichen Berufen einen erheblichen Vorteil hätte. Und da eigentlich alle Sciencefiction-Themen irgendwann in der Philosophie ankommen, wundert es sicher niemanden, dass es seit Jahren angeregte philosophische Debatten über leistungssteigernde Eingriffe in den menschlichen Organismus (so genanntes Enhancement) gibt.
Wo fängt Enhancement an?
Ein wichtiges Thema ist dabei die Frage, wo leistungssteigernde Eingriffe überhaupt anfangen. Ich trage orthopädische Einlagen, mit denen ich wesentlich ausdauernder zu Fuß bin als ohne. Klar, die korrigieren nur ein angeborenes Defizit, genau wie meine Brille fürs Autofahren. Aber: Ein moderat fehlsichtiger Brillenträger kann, mit einer hinreichend gut angepassten Brille, eine Sehkraft erreichen, die deutlich über das hinausgeht, was Augenärzte mit »100 Prozent« bezeichnen. Mit etwas Glück lässt sich dasselbe Ergebnis auch durch Laserchirurgie erzielen, also ohne einen Fremdkörper auf der Nase. Dass man mit manchen Beinprothesen in gewissen Hinsichten bessere sportliche Leistungen erbringen kann als ohne, ist ein Thema, das um die Paralympischen Spiele herum immer wieder auftaucht. Ist das nun alles schon Enhancement?
Doch selbst wenn man sich nun darauf einigen kann, dass beispielsweise ein gedächtnissteigernder Chip Enhancement ist, eine Hüftprothese oder eine munter machende Tasse Kaffee hingegen nicht, ist damit noch nicht gesagt, wer was wann enhancen darf. Soll sich die Menschheit denn nicht irgendwie über das natürliche Potenzial des Menschen hinaus entwickeln dürfen? Was ist edler daran, angeborene Anlagen auszuschöpfen, als sich einfach ganz neue Anlagen einzubauen?
Man könnte jedenfalls argumentieren, dass Enhancement die Herausforderung aufzeigt, Formen des Zusammenlebens zu finden, die an Maßstäben jenseits von Leistung orientiert sind. Eine radikale Freiheit des Einzelnen, seine Leistungsfähigkeit auf jedem beliebigen Gebiet so zu enhancen, wie er will, kann es nur geben, wenn Konkurrenz und Ungleichheit nicht dazu führen, dass dies indirekt Druck erzeugt, sich enhancen zu lassen. Es ist relativ klar, dass wir vermutlich alle nicht in einer Gesellschaft leben wollen, in der wir ein stets ausgeschlafener, gechippter Über-Leistungsträger sein müssen, um unseren Arbeitsplatz nicht zu verlieren.
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