Freistetters Formelwelt: Heißer Dampf, kühles Bier
Im Jahr 1883 meldete der deutsche Chemiker Moritz Honigmann ein ganz besonderes Verfahren zum Patent an. Er hatte eine Lokomotive erfunden, die zwar mit Dampf betrieben wurde, dafür aber kein Feuer benötigt. Statt Kohle fährt sie mit Natronlauge, und ihr Funktionsprinzip basiert auf dieser Formel:
Mit H bezeichnet man die Enthalpie, die man als Maß für die Energie eines thermodynamischen Systems beschreiben könnte. Sie setzt sich zusammen aus der inneren Energie U und dem Produkt aus dem Druck p und dem Volumen V, das man als Volumenarbeit bezeichnet. Sie entspricht der Arbeit, die man angesichts eines Drucks p verrichten muss, damit das System das Volumen V einnimmt. Zur inneren Energie trägt die thermische Energie bei, also die Bewegung der Moleküle; doch auch die Energie, die in der chemischen Bindung und den Atomkernen steckt, wird in U berücksichtigt.
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Die Enthalpie kann nicht direkt gemessen werden – beziehungsweise nur als Differenz –, spielt allerdings eine wichtige Rolle, wenn man chemische Reaktionen verstehen will. Wenn man zum Beispiel chemische Elemente in ihrer stabilsten und reinen Form betrachtet, dann ist die so genannte Standardbildungsenthalpie die Enthalpie, die nötig ist, wenn man aus ihnen ein Mol einer bestimmten Substanz bilden möchte. Wenn sie einen negativen Wert hat, dann wird bei der chemischen Reaktion Energie frei; ist sie positiv, dann benötigt man Energie, um die Reaktion durchführen zu können.
Chemikalien als Energiespeicher
Die Natronlokomotive von Honigmann funktioniert deswegen, weil festes Natriumhydroxid eine größere negative Standardbildungsenthalpie hat als gelöstes Natriumhydroxid. Löst man die chemische Verbindung also vollständig in Wasser auf, dann wird dabei Wärme freigesetzt. In der Praxis wird in Honigmanns Erfindung Wasserdampf in eine Natronlauge geleitet. Ist die Temperatur hoch genug, wird der Dampf komplett von der Lösung aufgenommen; durch den chemischen Vorgang der Lösung wird aber Wärme frei, mit der ein Dampfkessel erhitzt werden kann. Mit dieser Methode konnte Honigmanns Lokomotive ein paar Stunden lang fahren, bevor die Lauge zu stark verdünnt war und wieder eingedampft werden musste.
Durchgesetzt hat sich diese Art der Fortbewegung nicht, das Prinzip der thermochemischen Wärmespeicherung dagegen sehr wohl. Zum Beispiel mit Kalk und Wasser: Kalkpulver wird zuerst stark erhitzt, so dass das in ihm gebundene Wasser verdampft. Dieser gebrannte Kalk kann nun mit Wasser zu gelöschtem Kalk reagieren. Bei diesem chemischen Vorgang wird Wärme frei, die zum Beispiel zum Heizen verwendet werden kann.
Das Praktische dabei ist die Speicherfähigkeit des Kalks. Der gelöschte Kalk kann wieder gebrannt werden, und die dabei aufgewendete Energie bleibt über Monate gespeichert; so lange, bis er erneut gelöscht wird. Ein thermochemischer Kalkspeicher kann etwa im Sommer mit Sonnenenergie »geladen« werden und diese Energie dann im Winter wieder abgeben. Am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) wird derzeit eine Pilotanlage entwickelt, die genau so eine klimaneutrale Kalkheizung für den Einsatz in der Praxis testen soll.
Thermochemische Wärmespeicher kann man übrigens auch zum Kühlen verwenden. An der TU München wurde 1983 ein »selbstkühlendes Bierfass« entwickelt. Vor dem Zapfen des Biers wird eine entsprechende chemische Reaktion ausgelöst, die für eine schnelle Kühlung sorgt. Ist das Bier ausgetrunken, kann das Behältnis in der Brauerei durch Erhitzen wieder »aufgeladen« werden.
Vielleicht hätte Honigmann es zuerst mit kühlem Bier probieren sollen, bevor er die Welt mit seiner Natronlokomotive konfrontierte. Dann hätte sich seine Fortbewegungsmethode möglicherweise leichter durchgesetzt, und wir hätten uns einige Jahrzehnte an klimaschädlicher Kohleverbrennung erspart.
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