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Sex matters: Sex für Wiedereinsteiger

Wie geht Sex nach jahrelanger Abstinenz? Der Sexualtherapeut Carsten Müller erklärt, warum fehlende Erfahrungen keine Hürde sind, sondern eine Chance. Eine Kolumne.
Zwei Paar Füße schauen unter einer Decke hervor
Ein bisschen aus der Übung? Dann kann man sich auch langsam vortasten.

»Ich habe einen Mann kennen gelernt. Wir treffen uns regelmäßig und ich finde ihn sehr attraktiv. Neulich waren wir bei mir zu Hause und wir hätten fast miteinander geschlafen. Aber ich habe das blockiert. Irgendwie habe ich Angst, dass ich gar nicht mehr weiß, wie das geht, denn ich habe seit 15 Jahren nicht mehr mit einem Mann geschlafen. Was soll ich jetzt machen? Ich will diesen Mann nicht verlieren, aber ich fühle mich total überfordert.» (Anka*, 58)

Anka war 20 Jahre verheiratet. Sie hat eine Tochter, die vor zehn Jahren ausgezogen ist, und kümmert sich seitdem mit viel Energie um die eigene Anwaltskanzlei. Sie hat Freundinnen, mit denen sie verreist, und es fehlt ihr an nichts. Männer und Sexualität kamen in dieser Lebensphase nur am Rande vor. Es gab einfach keinen, den sie körperlich attraktiv fand. Bis vor ein paar Wochen. Da lernte sie auf einer Party zufällig jemanden kennen, mit dem sie nun eine Beziehung führt und Sex haben will. Und plötzlich gehen ihr tausend Fragen durch den Kopf: Merkt er, dass ich so lange keine sexuellen Erfahrungen gemacht habe? Muss ich es ihm sagen? Doch was, wenn ich es ihm sage?

Menschen, die lange Zeit ohne Sex mit einem Partner gelebt haben, fühlen sich zu Beginn einer neuen Beziehung besonders unsicher. Sie haben Angst, ihre lange Abstinenz zu offenbaren. Kein Wunder: Wer anderen davon erzählt, stößt mindestens auf Verwunderung, oft sogar auf Ablehnung, und spürt nicht selten einen gewissen sozialen Druck. Wie kann das sein? Das ist doch nicht gesund! Sexuelle Abstinenz wird als etwas Unnormales wahrgenommen. In einer psychologischen Studie, in der Frauen und ihre Erfahrungen mit sexueller Abstinenz untersucht wurden, fühlten sich einige der Befragten regelrecht stigmatisiert.

Betroffene haben außerdem Angst, den Erwartungen ihres neuen Partners oder ihrer neuen Partnerin nicht gerecht zu werden. Vor allem, wenn diese Person schon viele Beziehungen hatte. Dann kommt das Gefühl auf: Ich kann da nicht mithalten. Manche haben Sorge, aus der Übung zu sein. Andere sind überzeugt, dass sich die Sexualpraktiken verändert haben und sie nicht mehr up to date seien. Das ist ähnlich wie nach einer längeren Pause im Job, wo man sich auch fragt, ob man noch mithalten kann.

Unsicherheit am Anfang einer neuen Beziehung ist etwas, was viele Menschen kennen. Woher weiß man, was der andere mag? Und wer sagt, wie der Sex mit dem Neuen sein wird? Das muss man selbst herausfinden. Und genau darum ging es für Anka. Deshalb haben wir im ersten Gespräch über ihre Erwartungen und Vorstellungen gesprochen. Was glaubt sie, wird von ihr beim Sex erwartet? Und was ist ihre eigene Vorstellung von erfüllter Sexualität?

Auf die erste Frage antwortete mir Anka, dass sie davon überzeugt sei, dass heute jede Frau überall rasiert sein und den Umgang mit Sex-Toys beherrschen müsse. Ihre eigene Vorstellung von erfüllender Sexualität sei jedoch eine andere: Sie wünsche sich sanfte Berührungen und Küsse und in Ruhe auszuloten, was ihnen beiden gefiel.

Niemand muss am Anfang alle Karten auf den Tisch legen

Anka fragte sich, ob sie ihrem Partner offenlegen müsse, dass sie schon lange keinen Sex mehr gehabt habe. Ob sie ihm eine Art TÜV-Bericht vorlegen müsse, um ihm ihre Mängel nicht zu verschweigen. Aber Beziehungen brauchen keine Mängelliste. Niemand muss am Anfang alle Karten auf den Tisch legen oder gar Rechenschaft über seine sexuelle Biografie ablegen. Jeder kann und sollte bewusst entscheiden, welche Informationen er dem anderen zu Beginn einer neuen Beziehung zur Verfügung stellt.

Aber über Sex reden: bitte, ja! Da hilft ein Anstoß von außen. Das kann eine Serie sein, die man sich gemeinsam anschaut, oder ein Film, über den man sich austauscht. Ich finde es auch in Ordnung, etwas zu konstruieren. Nach dem Motto: Neulich hat mir eine Freundin etwas erzählt. Und dann zu fragen: Wie findest du das? Wie stellst du dir das mit uns vor – und was ist dir wichtig? Solche Gespräche können Verständnis und Vertrauen schaffen.

Ich bin sehr dafür, dass Menschen sich verletzlich zeigen dürfen. Es geht aber nicht darum, die Vergangenheit lückenlos aufzuarbeiten, sondern die eigenen Gefühle zu kommunizieren: »Hey, ich habe Lust auf Sex mit dir, und gleichzeitig merke ich, dass ich es herausfordernd finde, mich wieder auf jemanden einzulassen.«

Es tut gut, sich gemeinsam auf den Weg zu machen und nach vorne zu schauen. In der zweiten Sitzung erzählte Anka, dass sich in der Zwischenzeit ein Gespräch ergeben habe. Einfach so, durch einen Anstoß im Kino. Sie war erleichtert: »Zumindest weiß ich jetzt, dass er es nicht wichtig findet, ob eine Frau ganz rasiert ist«, sagte sie. »Und dass er sich auch fragt, wie ich seinen Körper finde.«

Anka wusste jetzt, dass ihr neuer Partner ähnliche Unsicherheiten und ähnliche Bedürfnisse hatte wie sie, auch wenn seine letzte Beziehung erst ein halbes Jahr zurücklag. Das machte das Thema Sex leichter. Der Druck war weg. Alles erschien natürlich. Ein gemeinsamer Prozess. Und eine Chance für beide, ihre Sexualität neu zu definieren.

* Name geändert

Jetzt sind Sie dran:

Wie oft nutzen Sie Gelegenheiten, um über Sex zu reden? Achten Sie einmal eine Woche lang bewusst darauf, wann Sexualität in Ihrem Leben Thema wird. Zum Beispiel, wenn Sie diese Kolumne lesen: Nutzen Sie das als Anstoß, um in Ihrer Partnerschaft oder Ihrem Freundeskreis über Sexualität zu sprechen.

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