Eulbergs tönende Tierwelt: Der Sympathieträger mit den Knopfaugen
Kaum eine andere heimische Singvogelart zeigt so wenig Scheu vor uns Menschen – und lässt sich so häufig aus nächster Distanz beobachten – wie das Rotkehlchen (Erithacus rubecula). Wenn ich den Garten umgrabe, dauert es meist nicht lange, bis ein erstes von ihnen angehüpft kommt und nach Nahrung sucht. Sie halten uns wohl für Wildtiere, die für sie schmackhafte Insekten aufscheuchen. In freier Natur kann man die Vögel häufig in der Nähe von Wildschweinen antreffen, wo sie Kleintiere aus der frisch aufgeworfenen Erde herauspicken.
Rotkehlchen sind eng mit virtuosen Singvogelarten verwandt, etwa mit der Nachtigall. Beide zählen zur Familie der Fliegenschnäpper (Muscicapidae). Ähnlich wie Nachtigallen singen Rotkehlchen bis spät in die Abenddämmerung hinein, bei hellem Mondschein oder Straßenbeleuchtung sogar nachts.
Ihr seidiger Gesang besteht mitunter aus bis zu 275 Motiven, welche sie immer wieder kunstvoll zu neuen perlenden Melodiemustern zusammenweben. Ich persönlich habe bei den melancholisch und metallisch anmutenden Klängen immer das Bild von feinem Silberregen im Kopf. Regelmäßig kann man auch gekonnte Imitationen anderer Vogelgesänge in ihrem Lied wahrnehmen, etwa Motive von Feldlerche, Blaumeise, Buchfink oder Amsel.
Selbst in der kalten Jahreszeit hört man die Klänge des Rotkehlchens regelmäßig – anders als bei den meisten Vogelarten in unseren Gefilden. Vor allem die bei uns überwinternden Rotkehlchen aus Nord- und Nordosteuropa trällern hier noch im tiefsten Winter. Außerhalb der Brutsaison singen auch die Weibchen und verteidigen eigene Reviere. Anders als jahrelang falsch angenommen, singen sie ebenso virtuos wie die Männchen, wie eine aktuelle Studie zeigt.
Rotkehlchen brüten in Bodennähe. Da die Nestlinge hier leichte Beute für Beutegreifer wie etwa Katzen oder Marder darstellen, rühren sie sich bei Erschütterungen nicht. Erst ein sanfter, schnatternder Fütterruf des Altvogels bewirkt wie ein geheimes Passwort, dass die Jungvögel ihre Schnäbel aufsperren.
Rotkehlchen waschen täglich ihr Gefieder: Man sieht sie häufig in Pfützen baden oder sich flügelschlagend an nassen Blättern »duschen«, indem sie sich an ihnen schubbern. Zusätzlich benutzen die Vögel Ameisen als eine Art »Deoroller«: Dazu nehmen sie die Insekten mit dem Schnabel auf und ziehen diese durch ihr Gefieder. Mit der abgegebenen Ameisensäure bekämpfen sie Plagegeister wie Bakterien, Parasiten oder Pilze. Aktives Einemsen nennt man diese Methode der Gefiederpflege. Passives Einemsen hingegen betreibt unter anderem der Eichelhäher: Er lässt sich mit gespreizten Flügeln in einem Ameisenhaufen nieder, um sich von der abgegebenen Ameisensäure bespritzen zu lassen.
Der wissenschaftliche Artname des Rotkehlchens, »rubecula«, ist eine Verniedlichung des Wortes »Rot« und bedeutet so viel wie »Rötchen«. Doch das innerartliche Revierverhalten der auf uns so putzig wirkenden Rotkehlchen ist alles andere als niedlich: Wenn keiner der Kontrahenten den »Überbietungsgesängen« und Drohgebärden des anderen nachgibt, kommt es immer wieder zu erbitterten Kämpfen. Die Rivalen verkrallen sich ineinander, pressen sich gegenseitig auf den Boden und versuchen, einander die Augen auszupicken. Es gibt Experimente, bei denen man Rotkehlchenskulpturen aus Knete oder Stoff in besetzten Revieren platzierte: Sie wurden binnen weniger Minuten martialisch zerfetzt.
- Das Rotkehlchen
Hier finden Sie alle Eckdaten sowie Beobachtungstipps rund um den knopfäugigen Vogel.
- Steckbrief
Klasse: Vögel
Ordnung: Sperlingsvögel
Familie: Fliegenschnäpper (Muscicapidae)
Größe: 13 bis 14 Zentimeter
Gewicht: 16 bis 22 Gramm
Fortpflanzungsperioden pro Jahr: 2 bis 3
Nachkommen pro Periode: 5 bis 7
Höchstalter: 17 Jahre
Bundesweiter Gefährdungsgrad (Rote Liste): nicht gefährdet
Volkstümlicher Name: Rötele
- Beobachtungstipps
Rotkehlchen sind nicht scheu. Sie lassen sich ganzjährig antreffen, etwa auf dem Waldboden, an aufgebrochenen Böden oder am Fuß von Futterstellen im Garten.
Auf Grund seiner geringen Scheu, seiner rundlichen Gestalt und seiner großen Knopfaugen ist das Rotkehlchen ein echter Sympathieträger und in unserer Kulturgeschichte stark verankert. In Großbritannien ist der kleine Vogel sogar ein wahrer Volksheld, sein Motiv wird vor allem zur Weihnachtszeit gern verwendet. Dies hängt damit zusammen, dass die Postboten dort im 19. Jahrhundert rote Jacken trugen und im Volksmund deshalb »Rotkehlchen« genannt wurden. Da die Weihnachtspost eine große englische Tradition besitzt und die Briefträger in der Vorweihnachtszeit gern gesehene Gäste waren, wuchs diese wertschätzende weihnachtliche Assoziation mit der Vogelart.
Auch in religiösen Legenden spielt der Vogel eine große Rolle. So verdankt er laut einer Geschichte seine rote Färbung Jesus Christus höchstpersönlich: Der Vogel weinte, als er die stacheligen Dornen sah, die Jesu Haupt durchbohrten, während er am Kreuz hing. Daraufhin flog das Rotkehlchen zu ihm und löste einen Dorn aus der Krone. Dabei wurde seine Brust mit Jesu Blut besprenkelt.
An Rotkehlchen wurde übrigens in der 1970er Jahren intensiv geforscht, um den Magnetsinn von Zugvögeln zu beweisen, der ihnen neben der Orientierung an Sonne, Sternen und Landmarken als Kompass dient. Dazu hielt man Rotkehlchen in Käfigen mit einem künstlichen Magnetfeld und konnte durch dessen Veränderung die Zugrichtungswahl des Vogels eindeutig vorhersagen. In späteren Experimenten wurde nachgewiesen, dass sich der Magnetkompass im rechten Auge befindet. Bei Jungvögeln sitzen noch in beiden Augen Magnetkompasse. Erst bei ausgewachsenen Vögeln wird der Sinn auf ein Auge verlagert, vermutlich, damit das zweite für andere Sinneseindrücke frei ist.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.