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Eulbergs tönende Tierwelt: Wer hat Angst vorm Ziegenmelker?

Mit dem großen Maul, den zugekniffenen Augen und seinem wundersamen nächtlichen Schnurren wirkt der Ziegenmelker (Caprimulgus europaeus) höchst bizarr. Kein Wunder, dass sich bald ein verrückter Mythos um ihn rankte.
Buntstiftzeichnung eines Ziegenmelkers, der auf dem Boden sitzt. Der grau-schwarz-braune Vogel hat die Flügel angelegt, die Beine eingezogen und die Augen halb geschlossen.
Mit seinem kurzen, unglaublich breiten Schnabel schnappt der Ziegenmelker Fluginsekten aus dem Nachthimmel. An jeder Seite des Mauls vergrößern sechs drahtartige Borsten die Oberfläche.
Wissen Sie, wie ein Siebenschläfer klingt? Oder ein Reh? Warum der Pirol auch Regenkatze genannt wird? Vermutlich nicht – obwohl all diese Lebewesen Teil unserer heimischen Fauna sind. In der Kolumne »Eulbergs tönende Tierwelt« stellt der Techno-Künstler, Ökologe und Naturschützer Dominik Eulberg faszinierende Exemplare aus der Tierwelt vor unserer Haustür vor.

Kürzlich konnte ich wieder einmal die spektakuläre Balz der Ziegenmelker (Caprimulgus europaeus) in der Kyritz-Ruppiner Heide zwischen der Müritz und Berlin bestaunen. Auf diesem ehemaligen Truppenübungsplatz mit seinen rund 12 000 Hektar haben stolze 550 Brutpaare einen optimalen Lebensraum gefunden: eine offene, trocken-warme Landschaft mit einem ausreichenden Insektenangebot. Da auf solchen Schießplätzen seit jeher keine Pestizide eingebracht wurden, sind die Orte wahre Naturoasen.

Der Ziegenmelker ist dämmerungs- und nachtaktiv. Während der Balz geben die Männchen minutenlang ein charakteristisches Werbeschnurren zum Besten – für mich ein tief beeindruckendes Erlebnis: So eine Schnurrarie, von exponierten Ästen aus vorgetragen, kann nonstop über 30 Minuten andauern. Das klingt merkwürdig unnatürlich, eher wie der Oszillator eines Synthesizers oder wie ein Mofa in weiter Ferne.

Während seiner Balzflüge erzeugt der Vogel außerdem einen auffälligen, peitschenden Sound. Diesen bewerkstelligt er nicht etwa wie eine Taube durch ein Zusammenschlagen der Flügel, sondern indem er seine sehr langen Flügel blitzschnell »ausschlägt«. Ein vergleichbares Geräusch entsteht beim Ausschlagen eines Handtuchs oder beim Flattern einer Fahne an einem Mast.

Fast überall in der Literatur kann man lesen, dieses Flügelknallen käme durch ein Klatschen zu Stande. Dass das nicht zutrifft, hört man jedoch gut, wenn man den Sound stark verlangsamt abspielt. Nun ist der Doppelschlag deutlich zu hören und seine Wellenform klar erkennbar, da der Luftstrom einmal unterhalb und einmal oberhalb des Flügels abreißt. Bei einem Klatschen wäre hingegen nur ein Schlag zu hören und zu sehen. Zudem sind die Federn des Ziegenmelkers viel zu weich und seine Flügel zu schmal, um ein wirkliches Klatschen zu erzeugen.

Männliche Ziegenmelker kann man bei ihren Balzflügen optisch gut an den weißen Federabzeichen an den Flügelspitzen und den äußeren Steuerfedern des Schwanzes erkennen. Wie ein Schmetterling fliegt er so langsam wie nur möglich und stellt mit v-förmig erhobenen Flügeln seine markanten Abzeichen wie eine Leuchtreklame zu Schau. Um seine Revierabgrenzung akustisch zu unterstreichen, gibt er dabei »huit«-artige Flugrufe von sich.

Erst nach Sonnenuntergang geht ein Ziegenmelker auf Insektenjagd, vornehmlich auf Nachtfalter. Mit seinem sehr kurzen, aber unglaublich breiten Schnabel schnappt er Fluginsekten aus dem Nachthimmel – ähnlich einem Wal, der Krill aus dem Meer fischt. An jeder Seite des Mauls vergrößern sechs drahtartige Borsten die Oberfläche zusätzlich wie eine Reuse. Entweder stößt der Jäger mit seinem riesigen Maul gezielt in Mückenschwärme, scheucht Insekten im raschen Tiefflug über der Vegetation auf oder schnappt seine Beute einem Fliegenschnäpper gleich gezielt von einer Sitzwarte aus der Luft. Erstaunlicherweise trinkt der Ziegenmelker trotz seines so trockenen Lebensraums nichts. Ähnlich wie eine Fledermaus deckt er seinen Flüssigkeitsbedarf ausschließlich über erbeutete Insekten.

Der Ziegenmelker | Meisterhaft getarnt: Kauert der Ziegenmelker mit seinem camouflageartigen Gefieder der Länge nach auf einem Ast, ist er fast nicht von einem Stück Holz zu unterscheiden.

Sein bizarres Aussehen mit dem riesigen Maul und den tagsüber zugekniffenen Augen regte die Menschen schon in der Römerzeit zu der abenteuerlichen Vermutung an, er würde nachts an den Eutern der Ziegen im Stall saugen. Plinius der Ältere bezeichnete die Vogelart in seiner 79 n. Chr. erschienenen Enzyklopädie »Naturalis historia« als »nächtlichen Dieb«: Nach dem Melken durch den Vogel würde das Euter absterben und die Ziege erblinden. Auch der wissenschaftliche Gattungsname der Ziegenmelker Caprimulgus leitet sich von diesem Mythos ab und setzt sich aus den beiden lateinischen Wörtern »capra« (Ziege) und »mulgere« (melken) zusammen. Tatsächlich verschlagen ihn aber ganz einfach die vom Vieh angelockten Insekten in die Ställe.

Heute nennt man den außergewöhnlichen Vogel auch Nachtschwalbe. Das ist aber zumindest verwandtschaftlich gesehen genauso falsch, denn er gehört als einzige einheimische Art zur Ordnung der Schwalmartigen (Caprimulgiformes) und ist näher mit dem Mauersegler als mit den Schwalben verwandt. Ich persönlich mag das Wort Ziegenmelker außerdem sehr viel lieber, da es unmittelbar eine Schwingung erzeugt und Neugier hervorruft.

  • Der Ziegenmelker
    Hier finden Sie alle wichtigen Eckdaten und Beobachtungstipps rund um den Vogel mit dem ulkigen Namen.
  • Steckbrief

    Klasse: Vögel

    Ordnung: Schwalmartige

    Familie: Nachtschwalben

    Größe: 26 bis 28 Zentimeter

    Gewicht: 75 bis 100 Gramm

    Fortpflanzungsperioden pro Jahr: 1 bis 2

    Nachkommen pro Periode: 2 bis 3

    Höchstalter: 5 Jahre

    Bundesweiter Gefährdungsgrad (Rote Liste): gefährdet

    Volkstümlicher Name: Nachtschwalbe

  • Beobachtungstipps
    Landung des Ziegenmelkers | Ein männlicher Ziegenmelker landet auf einem Ast. Deutlich zu sehen sind die weißen Zeichungen an den Flügelspitzen, die beim Flug im Dunkeln prominent hervorstechen.

    Der Ziegenmelker ist von Mai bis Ende August in der Abenddämmerung in Heidegebieten anzutreffen. Augen auf, er ist ein Meister der Tarnung!

Tagsüber ruht ein Ziegenmelker nahezu bewegungslos auf dem Boden oder auf Ästen. Auf Letzteren übrigens immer der Längsrichtung nach, denn mit seinem rindenfarbenen Gefieder sieht er, selbst aus nächster Nähe, ebenfalls aus wie ein Stück Holz. Auch bei der Brut verlässt er sich ganz auf seine Tarntracht: Er baut nicht einmal ein Nest oder wenigstens eine Mulde, stattdessen legt das Weibchen meist zwei Eier einfach auf den nackten Boden. Mit Vorliebe tut sie dies in der Nähe von kleinen Birken. Denn die Formen und Farben des verrottenden Birkenlaubs spiegeln sich perfekt in dem camouflageartigen Ziegenmelker-Gefieder wider. Diese Form der Tarnung nennt man übrigens Somatolyse. Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet wörtlich »Auflösung des Körpers«. Durch die Musterung sowie die Tarnfarben des Gefieders verschmilzt der Ziegenmelker optisch mit seiner Umgebung. Auf dem Boden erscheint er so fast unsichtbar. Kommt ein Feind den Eiern dennoch zu nahe, wird der Vogel zum Schauspieler und »verleitet« den vermeintlichen Fressfeind, lockt ihn also mit einer vorgetäuschten Verletzung vom Gelege weg.

Wenn bei nasskalter Witterung kaum Fluginsekten unterwegs sind, können der Ziegenmelker und vor allem seine Nestlinge ihren Stoffwechsel extrem herunterfahren. In dieser Kältestarre, auch Torpor genannt, überstehen sie unbeschadet mehrere Tage ohne Nahrung.

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