Eulbergs tönende Tierwelt: Die verkannte Virtuosin unserer Gärten
Ich muss gestehen, dass nicht die hoch gepriesene Nachtigall meine Lieblingssängerin ist, sondern die allgegenwärtige Amsel (Turdus merula). Der herrlich flötende Reviergesang, den die Männchen von exponierten Singwarten wie Baumkronen oder Dachfirsten aus vortragen, verfügt über einen opulenten Tonumfang von weit mehr als einer Oktave; die Sänger sind in ihrem Ausdruck enorm variabel und können die komplexesten Harmoniestrukturen hervorbringen. Mir persönlich schenkt ihr Gesang jedesmal ein tiefes Gefühl der Geborgenheit und des Friedens.
Wahrscheinlich ist das auch eine evolutionsbiologische Prägung: Denn wo eine Amsel singt, ist die Gefahr, dass dahinter ein bedrohliches Raubtier lauert, eher gering. Die Musik der Singvögel erfüllt bereits seit 33 Millionen Jahren die Lüfte unseres Planeten. Homo sapiens existiert nach aktuellen Erkenntnissen erst seit rund 300 000 Jahren.
Vögel besitzen einen völlig anderen Stimmapparat als wir Menschen. An Stelle von Stimmbändern haben sie einen zweiten, unteren Kehlkopf, der sich meist dort befindet, wo sich die beiden Bronchien aufspalten. Der Name für diesen Stimmapparat – Syrinx – leitet sich vom griechischen Wort für Panflöte ab. Hier befinden sich Membranen, die von zwei Dutzend Muskeln in Schwingungen versetzt werden. Bis zu 200-mal pro Sekunde können sich die Stimmlippen der Syrinx beim Singen zusammenziehen. Kaum eine andere Bewegung im Tierreich ist so schnell; sie ist gar die schnellste Bewegung, die wir bisher bei Wirbeltieren messen konnten. Zum Vergleich: Ein Wimpernschlag dauert etwa 150 Millisekunden. In dieser Zeit können sich die Stimmlippen einer Amsel schon 30-mal bewegt haben. Ich habe einfach mal eine Amsel vor meinem Studiofenster mit der Zeitlupenfunktion meines Handys aufgenommen:
Erst in der Verlangsamung wird uns die wahre Virtuosität einer Amsel bewusst. Ihre Sangeskunst ist echte stimmliche Präzisionsarbeit. Der Schriftsteller David Haskell beschrieb den Vorgang so treffend: »Vögel sind schnellfingrige Goldschmiede der Luft, die jede Sekunde dutzende ornamentaler Edelsteine herstellen. In ihren Modulationen von Tonhöhe, Amplitude und Klangfarbe hören wir die Vitalität ihres Blutes, ihrer Muskeln und Nerven.«
Ein erfahrenes Amselmännchen reiht mehr als 30 Klangmotive zu wunderschönen Musikketten aneinander. Jedes Männchen hat übrigens zwei bis fünf Lieblingsmotive, so dass man mit etwas Erfahrung und Übung die einzelnen Individuen im eigenen Garten gut unterscheiden kann. Eine Gesangsstrophe lässt sich in einen Motivteil und einen leiseren, eher zwitschernden Anhang unterteilen. Gerade in diesen Anhängen ist eine ausgeprägte Zweistimmigkeit wahrnehmbar, eine Duophonie, in der die Frequenzen einander zum Teil bemerkenswert entgegengesetzt verlaufen. Das ist möglich, weil die gefiederten Sänger die Syrinxmembranen beider Seiten unabhängig voneinander betätigen können.
Die Amsel gehört übrigens zur Familie der Drosseln. Vor allem bei den braun gefärbten Weibchen und Jungvögeln ist diese Verwandtschaft unmittelbar an der für Drosseln so typischen gefleckten Brust erkennbar. Noch vor 150 Jahren war sie eine scheue Waldbewohnerin. Man nennt sie deshalb auch heute noch Walddrossel. Mittlerweile ist sie mit rund zehn Millionen Brutpaaren die häufigste Brutvogelart Deutschlands. Insgesamt gibt es hier zu Lande zirka 70 bis 100 Millionen Brutpaare. Damit ist also jedes zehnte heimische Vogelindividuum eine Amsel, auch wenn wir insgesamt 259 regelmäßige Brutvogelarten in unserem Land haben.
- Die AmselHier finden Sie alle wichtigen Eckdaten rund um die Amsel.
- Steckbrief
Klasse: Vögel
Ordnung: Sperlingsvögel
Unterordnung: Singvögel
Familie: Drosseln
Größe: 24 bis 29 Zentimeter
Gewicht: 80 bis 110 Gramm
Fortpflanzungsperioden pro Jahr: 2 bis 3
Nachkommen pro Periode: 3 bis 5
Höchstalter: 17 Jahre
Bundesweiter Gefährdungsgrad (Rote Liste): nicht gefährdet
Volkstümlicher Name: Schwarzdrossel
- Beobachtungstipps
Die Amsel trifft man ganzjährig in unseren Gärten und Parks an.
Die Amsel profitiert von der Winterfütterung in unseren Gärten und den sonst ökologisch so kritisch zu betrachtenden kurz gemähten Rasenflächen. Hier findet sie leicht ihre Lieblingsspeise: Regenwürmer. Mit ihren feinfühligen Füßen kann sie die unterirdischen Vibrationen der Würmer auf solchen Kurzrasenflächen optimal wahrnehmen und den Boden an der richtigen Stelle aufhacken. In der kalten Jahreszeit frisst sie auch gerne Samen und Beeren, die für uns Menschen hochgiftig sind, beispielsweise Tollkirsche, Seidelbast oder Eibe. Ihre Toleranz gegenüber deren starken Giften ist 1000-mal höher als die des Menschen.
Immer wieder kann man übrigens auch auffällig weiß gefleckte Amseln sichten, die jedoch normal gefärbte Augen haben. Dabei handelt es sich nicht um Albinismus, sondern um eine Form von Leuzismus. Bei diesem harmlosen Mutationsdefekt fehlen farbstoffbildende Zellen, so dass die Federn weiß und die darunterliegende Haut rosa ausgebildet sind. Da leuzistische Amseln in der freien Natur auf Grund ihrer auffälligen Färbung schnell von Beutegreifern entdeckt werden, trifft man sie fast ausschließlich in Städten an.
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