Star-Bugs - die kleine-Tiere-Kolumne: Wie Kakerlaken sich an uns Menschen anpassen
Ist da gerade etwas vorbeigehuscht, etwas Kleines, Braunes? Das Licht im Restaurant ist gedimmt. Die Besucherin schaut unter den Tisch, unter ihrer Tasche: nichts. »Ich könnte schwören, da war etwas«, sagt sie noch, bevor sie sich wieder ihrem Essen zuwendet. Nicht unwahrscheinlich, dass zwischen Tisch-, Stuhl- und Besucherbeinen wirklich ein bestimmtes Insekt krabbelte, weiß Sarah Saadain. Denn: »Kakerlaken sind überall.«
Die Insektenforscherin muss es wissen, für ihre Doktorarbeit an der Veterinärmedizinischen Universität Wien hat sie etliche Exemplare gesammelt, auch in Supermärkten und Restaurants. »Jetzt wo ich besonders drauf achte, sehe ich sie an jeder Ecke«, sagt sie. Im Volksmund heißt sie Kakerlake oder Küchenschabe. Der präzisere Name des rund anderthalb Zentimeter langen Insekts ist Deutsche Schabe, wissenschaftlich: Blattella germanica. Den fuchsbraunen Körper tragen sechs lange, mit Dornen besetzte Beine. Sie bewegen die Deutsche Schabe fort, die bernsteinfarbenen Flügel nutzt das Insekt höchstens, um kurze Strecken zu gleiten – fliegen kann es nicht. Unter dem durchsichtigen Rückenschild zeichnen sich zwei dunkle Streifen ab, die Augen am vergleichsweise kleinen Kopf sind länglich und fast schwarz. Unruhig zucken die langen Fühler, immer auf der Suche nach spannenden Gerüchen.
Diese stammen häufig von Artgenossen, denn Kakerlaken sind gern in Gesellschaft. Außerdem sind sie nachts und im Verborgenen aktiv, im Dunkeln ist die Sicht eingeschränkt. Mit Hilfe von Aggregationspheromonen – Lockstoffen im Schabenkot – finden sie dennoch zuverlässig zueinander. Natürlich reizen sie auch andere Düfte und ziehen die Allesfresser in Küchen und Vorratsräume in Hotels, Krankenhäuser, Zoos. Kurzum: überall dorthin, wo die Insekten einen warmen Unterschlupf und Nahrung finden.
Wenige Insekten sind stärker verhasst
Bei den menschlichen Mitbewohnern stößt ihre Anwesenheit meist auf wenig Gegenliebe, denn Blattella germanica gilt als Vorratsschädling und deren Vorkommen wird mit mangelnder Hygiene assoziiert. Erst Ende Juli 2023 musste beispielsweise ein Münchner Restaurant eine Strafe zahlen, weil sich neben Gästen auch Mäuse und Kakerlaken in den Räumen tummelten. Im Mai 2024 traf es eine weitere Gaststätte, nur ein paar Straßen weiter.
Vermutlich übertragen Kakerlaken Krankheiten nicht direkt, aber sie können Lebensmittel mit ihrem Kot und anderen Ausscheidungen verunreinigen. Sie befördern Schimmelpilze, Parasiten und gar antibiotikaresistente Bakterien in und auf sich, die sie bei ihren Streifzügen durch menschliche Behausungen verteilen.
Kakerlaken sind weltweit zudem ein Grund für allergisches Asthma, noch vor Hunde- oder Katzenhaaren und Ausscheidungen von Hausstaubmilben. Trotzdem resümierte die Weltgesundheitsorganisation WHO in einem Bericht im Jahr 2008, es gebe »immer noch keinen endgültigen Beweis dafür, dass Schaben Vektoren für menschliche Krankheiten sind«.
Kosmopolit dank des Menschen
Kakerlaken fühlen sich in der Nähe von Menschen wohl – und das mittlerweile weltweit. Kaum ein Insekt hat sich derart erfolgreich ausgebreitet und alle bewohnten Kontinente erobert. Ein Grund für den Erfolg: Die Tiere vermehren sich in atemberaubender Geschwindigkeit. »Die Deutsche Schabe kann in ihrem bis zu 150 Tage langen Leben viermal Eier legen«, sagt Saadain, insgesamt bis zu 200 Stück. Bei guten Bedingungen wird innerhalb von rund fünf Wochen aus einem Ei eine neue Schabe, die wiederum Eier legen kann. Pro Jahr sind so bis zu zehn Schabengenerationen möglich.
Das allein reicht aber nicht aus, um das Erfolgsmodell Kakerlake zu erklären. Denn außerhalb menschlicher Behausungen sterben diese Insekten, vor allem, weil es ihnen auf Dauer zu kühl ist. Es gibt keine dauerhaften Populationen in natürlichen Habitaten, in Europa fehlen sogar frei lebende nah verwandte Arten.
Heimische Schaben – fliegende Kakerlaken-Verwandtschaft
Als Weltenbummler ist die Deutsche Schabe überall dort zu Hause, wo Menschen ihnen ein warmes Heim und ausreichend Nahrung bieten. Ihre »wilden« Verwandten hingegen meiden die Nähe des Menschen. In Deutschland leben rund sechs Arten, die alle zu den Waldschaben (Ectobiinae) gehören, etwa die Gemeine Waldschabe (Ectobius lapponicus). Sie ist dunkler und etwas kleiner als die Deutsche Schabe, außerdem kann sie fliegen.
Dazu ist auch die Bernstein-Waldschabe (Ectobius vittiventris) in der Lage, die der Deutschen Schabe zum Verwechseln ähnlich sieht. Sie ist aus Südeuropa eingewandert und gilt inzwischen als in Deutschland etabliert. Im Gegensatz zur Deutschen Schaben ist die Bernstein-Waldschabe auch tagsüber aktiv.
Warum fehlt sie im Freiland?
Insektenforscher beschrieben die Art Blattella germanica erstmals vor rund 250 Jahren, und zwar in Deutschland, wie der Name verrät. Verwandte Arten derselben Gattung krabbeln aber bevorzugt in Asien durchs Unterholz. Doch im Mai 2024 verlautbarte ein internationales Forschungsteam, das Rätsel gelöst zu haben.
Die Arbeitsgruppe hatte sich das Erbgut von 281 Schaben aus 17 Ländern auf sechs Kontinenten angeschaut und einen Stammbaum erstellt. Demnach entwickelte sich die Deutsche Schabe bereits vor mehr als 2000 Jahren aus der Asiatischen Schabe Blattella asahinai, »wahrscheinlich durch Anpassung an menschliche Siedlungen in Indien oder Myanmar«, schreiben die Studienautoren. Rund 800 Jahre später erreichte die Deutsche Schabe den Nahen Osten und weitere acht Jahrhunderte später Europa. Von dort aus ging es seit dem späten 19. Jahrhundert um die ganze Welt – stets in engem Kontakt mit menschlichen Reisenden.
Warum genau die Deutsche Schabe so erfolgreich ist, erforschen Sarah Saadain und ihr Doktorvater Robert Kofler in der Abteilung für Populationsgenetik der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Der Bioinformatiker ist Experte für transponierbare Elemente (Transposons). Das sind kleine DNA-Abschnitte, die sich in Zellen selbstständig vermehren, im Genom »herumwandern« und es dadurch verändern.
Diese auch »springenden Gene« genannten Transposons halfen beispielsweise der Taufliege Drosophila melanogaster bei ihrem Erfolgsmarsch um die Welt, wie Kofler und seine Kollegen Anfang 2024 bewiesen.
Transposon-Invasionen nennen sie es, wenn neue transponierbare Elemente auf der Bildfläche erscheinen. »In den vergangenen 200 Jahren hat es genau elf Invasionen gegeben«, sagt Kofler, »und wir können datieren, wann sich welches springende Gen im Taufliegen-Genom festgesetzt hat.« Eines etwa tauchte zwischen 1935 und 1940 im Genom auf, ein weiteres zwischen 1950 und 1980. »Und diese Transposons haben sich nicht nur regional ausgebreitet, sondern weltweit.« Dadurch sei das Erbgut der Taufliege um eine Million Basenpaare angewachsen, immerhin rund ein Prozent. Mehr DNA bedeutet mehr Variationsmöglichkeiten und damit eine flexiblere Anpassung an äußere Einflüsse. »Evolution im Schnelldurchlauf«, so Kofler.
Aus hell mach dunkel – Industriemelanismus dank Transposon
In biologischen Lehrbüchern gilt der Birkenspanner (Biston betularia) als Paradebeispiel für die schnelle Anpassung an eine veränderte Umwelt. Der Nachtfalter hat eigentlich eine cremeweiße Grundfarbe mit brauner bis schwarzer Zeichnung. Diese Färbung macht den Falter auf Birkenrinde unsichtbar. Es gibt aber auch eine dunkle Farbmorphe, die auf Grund einer DNA-Mutation deutlich mehr des schwarzen Farbstoffs Melanin produziert. Auf hellem Untergrund fallen diese fast schwarzen Falter schnell auf.
Ende des 19. Jahrhunderts beobachteten Forscher in englischen Industriegebieten jedoch vermehrt dunkle Individuen. Diese Morphen waren an den vom Ruß geschwärzten Birkenstämmen deutlich besser getarnt als ihre hellen Artgenossen. Das Phänomen ist bekannt als Industriemelanismus. Erst im Jahr 2016 fanden britische Forscher heraus, dass für die schnelle Anpassung ein springendes Gen verantwortlich ist.
Und was hat das mit der Deutschen Schabe zu tun? Die Kakerlake habe sich seit dem Abspalten von Blattella asahinai vielfach an neue Umweltbedingungen angepasst, wissen die Biologen, vor allem beim Zusammenleben mit dem Menschen. »In großem Maßstab setzen Menschen Insektizide erst seit knapp 100 Jahren ein und dennoch ist die Deutsche Schabe bereits gegen viele resistent«, sagt Kofler. Außerdem mieden Kakerlake im Gegensatz zu ihren Verwandten Licht und flögen nicht. Der Bioinformatiker ergänzt: »Drei drastische Anpassungen in kürzester Zeit, das riecht förmlich nach Transposons.«
Auf der Suche nach solchen springenden Genen durchleuchten Saadain und Kofler nun das Schaben-Genom. Dafür greifen sie auf besondere Schätze zurück: Im Naturhistorischen Museum in Wien lagerten 280 Deutsche Schaben, so Saadain. »Ich habe welche herausgesucht, die bereits vor 150 Jahren in Wien gesammelt wurden.« Diese Exemplare bilden den Entwicklungsstand der Art zu dieser Zeit ab.
Unterstützung erhielt die Biologin von Susanne Randolf, die als Kuratorin die Sammlungen verschiedener Insektengruppen betreut. »Nur wenige Kuratoren haben Verständnis dafür, wenn wir wertvolle Exemplare mit Chemikalien bearbeiten wollen«, sagt Saadain. Überzeugt hat Randolf die Methode, mit denen die Forscherin das Erbgut aus den Schaben extrahiert. Dabei taucht Saadain die getrockneten Insekten in ein Lösungsmittel, das Chitinpanzer, Flügel, Fühler und Beine intakt lässt. Nur das Innere der Schabe löst sich auf, so dass die DNA nach einiger Zeit in dem Lösungsmittel schwimmt und analysiert werden kann. Die Schabenhülle hingegen kehrt nach dem Trocknen in die Sammlung zurück.
Das mehr als 150 Jahre alte Erbgut vergleicht Saadain mit der DNA der verwandten Ursprungsart Blattella asahinai sowie heute lebender Deutschen Schaben. Die hat sie in einem Wiener Shoppingcenter gesammelt. Die Analysen werden sich noch eine Weile hinziehen. »Das Erbgut der Deutschen Schaben ist mit rund zwei Milliarden Basenpaaren fast so umfangreich wie das des Menschen«, erklärt Robert Kofler. Damit ist es etwa 15-mal größer als das Taufliegen-Genom und damit viel Stoff, den es zu durchsuchen gilt.
Von den Ergebnissen erhofft sich die Arbeitsgruppe einen Einblick in die Evolution der Deutschen Schabe und was sie so erfolgreich macht. Kofler ist sicher, dass dramatische Veränderungen des Erbguts nicht zufällig geschehen: »Wir denken, dass der Mensch daran einen großen Anteil hat.« Durch die Globalisierung rücke die Welt näher zusammen, eigentlich strikt getrennte Lebensräume überlappen sich auf einmal, weil Arten mit Frachtschiffen und Flugzeugen ans andere Ende der Erde gelangen. Dadurch helfen wir, dass sich Transposons schneller verteilen können. Gleichzeitig erhöhen wir den evolutionären Druck auf die Schaben. Tiere, die mit Gift zurechtkommen, können sich erst recht besser vermehren.
Neue Erkenntnisse zu Transposons bei der Deutschen Schabe könnten also helfen zu verstehen, wie sich das Genom von Kosmopoliten so rasch an neue Lebensräume anpassen kann: Schließlich sind nicht nur wir Menschen von der Globalisierung betroffen.
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