Die fabelhafte Welt der Mathematik: Ein nützlicher Rechenfehler
Was ergibt 1⁄2 + 1⁄7? Da ich im Kopfrechnen nicht besonders gut bin, brauche ich dafür einen kurzen Moment: Ich muss beide Brüche auf den Hauptnenner (14) erweitern, dann die Zähler addieren (7 + 2 = 9) und das Ergebnis (9⁄14), wenn möglich, kürzen. So lernt man es in der Schule. Ganz sicher ist jedenfalls, dass man nicht einfach den Zähler und Nenner separat addieren darf; 2⁄9 ist defintiv falsch – ebenso ergibt 1⁄2 + 1⁄2 eben nicht 2⁄4. Im Englischen wird die falsche Art von Bruchrechnung a⁄b + c⁄d = (a+c)⁄(b+d) oft als »Freshman sum« bezeichnet, was allerdings nicht sehr nett den Studienanfängern (den Freshmen) gegenüber ist. Schließlich sollten bereits Kinder wissen, dass man Brüche nicht auf diese Weise addiert. Doch tatsächlich kann sich die fehlerhafte Bruchrechnung in manchen Fällen als hilfreich erweisen. Zum Beispiel, wenn man von einem Einheitensystem in ein anderes wechseln oder eine irrationale Zahl wie Pi durch einen Bruch annähern möchte.
Der Nutzen wurde gegen Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich. Damals erschien in Großbritannien jährlich ein Magazin, das sich an Frauen richtete: »The Ladies' Diary«. Doch anders als in heutigen Frauenzeitschriften drehten sich die Themen nicht um Rezepte, Mode oder Einrichtungstipps, sondern waren mit mathematischen Rätseln, wissenschaftlichen Inhalten und Daten zu wichtigen Jahresereignissen gefüllt. In der Ausgabe des Jahres 1747 erschien die Frage, wie viele vollständig gekürzte Bruchzahlen im Intervall von 0 und 1 liegen, deren Nenner höchstens zweistellig ist.
Ursprung in der Französischen Revolution
Die Aufgabe besteht also darin, einen Bereich auf dem Zahlenstrahl herauszupicken und gewissermaßen alle darauf befindlichen Zahlen zu zählen – allerdings nur mit einer eingeschränkten Auflösung. Würde man alle reelle Zahlen zulassen, müsste man unendlich viele Punkte zählen (tatsächlich enthält jeder noch so kleine Schnipsel des Zahlenstrahls unendlich viele reelle Werte). Wenn man aber lediglich Brüche der Form k⁄n betrachtet, bleibt nur noch eine endliche Anzahl an Punkten übrig. Und wie sich herausstellt, hängt diese Punktfolge mit der fehlerhaften Addition von Brüchen zusammen.
Möchte man alle Bruchzahlen zwischen 0 und 1 zählen, deren Nenner höchstens n = 99 beträgt, kann man zunächst kleinere Nenner auf Muster hin untersuchen: Es gibt einen Bruch mit Nenner n = 1 (1⁄1), zwei Brüche mit Nenner 2 (1⁄2, 2⁄2), drei Brüche mit Nenner 3 (1⁄3, 2⁄3, 3⁄3) und so weiter. Also existieren allgemein n Brüche mit Nenner n. Wenn man diese alle addiert, erhält man: 1 + 2 + 3 + … + 99 = 4950. Allerdings ist das nicht die korrekte Lösung zur gestellten Aufgabe – denn auf diese Weise hat man etliche Brüche mehrfach gezählt, etwa: 1⁄2 und 2⁄4 oder 1⁄1 und 2⁄2. Im »The Ladies' Diary« war deshalb explizit nach der Anzahl von Brüchen gefragt, die unterschiedliche Werte besitzen – also vollständig gekürzte Ausdrücke.
Um sich dem Problem zu nähern, hilft es, die Bruchzahlen genauer zu betrachten. Angenommen, man listet alle Brüche zwischen 0 und 1 auf, deren Nenner höchstens 4 beträgt: {0⁄1, 1⁄4, 2⁄4, 3⁄4, 4⁄4, 1⁄3, 2⁄3, 3⁄3, 1⁄2, 2⁄2, 1⁄1}. Nun muss man alle Brüche soweit wie möglich kürzen und die Zahlen der Reihe nach ordnen. Damit ergibt sich eine Menge, die F4 genannt wird: F4 = {0, 1⁄4, 1⁄3, 1⁄2, 2⁄3, 3⁄4, 1}. Von den ursprünglich 11 Werten bleiben also 7 übrig. Was passiert, wenn man den zulässigen Nenner n auf fünf erhöht? Die Liste lautet dann: F5 = {0, 1⁄5,1⁄4, 1⁄3,2⁄5, 1⁄2, 3⁄5, 2⁄3, 3⁄4, 4⁄5}.
Wenn Sie die Zahlen näher anschauen, fällt Ihnen vielleicht ein gewisses Muster auf. Wenn man drei aufeinanderfolgende Zahlen aus einer der Listen herauspickt, zum Beispiel: 1⁄2, 3⁄5, 2⁄3, dann ist die mittlere Zahl (3⁄5) stets die »freshman sum« der beiden anderen Brüche ((1+2)⁄(2+3) = 3⁄5). In manchen Fällen ist dieser Zusammenhang nicht direkt ersichtlich, weil man das Ergebnis noch kürzen muss: 1⁄4, 1⁄3, 2⁄5: (1+2)⁄(4+5) = 3⁄9 = 1⁄3.
Eine fehlerhafte Rechnung liefert die Antwort
Ganz so überraschend ist das nicht, wenn man bedenkt, was die Freshman-Summe überhaupt berechnet. Dafür ist es hilfreich, die Berechnung grafisch darzustellen: Man kann einen Bruch a⁄b beispielsweise als Punkt (a, b) in einem kartesischen Koordinatensystem markieren. Verbindet man diesen Punkt mit dem Ursprung (0, 0), dann entspricht die Steigung der Geraden dem Bruch a⁄b. Verzeichnet man außerdem einen anderen Punkt (c, d) und deren Freshman-Summe (a+c, b+d), lässt sich eine gewöhnliche Vektoraddition erkennen. Die Steigung des neuen Punkts (a+c, b+d) liegt dann zwangsläufig zwischen a⁄b und c⁄d. Das heißt: Bildet man die Freshman-Summe zweier Brüche, erhält man einen neuen Bruch, der zwischen den beiden Werten liegt.
Die Entdeckung dieser Eigenschaft ist recht verworren und geht auf die Zeit der Französischen Revolution zurück. Damals entschied der Staat, von den britischen Maßeinheiten (»imperial units«) zum metrischen System überzugehen. Das führte zu einigem Umdenken: Um die britischen Einheiten ineinander umzurechnen, muss man der Bruchrechnung mächtig sein: 3 Fuß sind 1 Yard, 1 Fuß sind 12 Zoll und so weiter. Im metrischen System rechnet man hingegen mit Dezimalzahlen: 100 Zentimeter sind 1 Meter, 1000 Meter sind 1 Kilometer. Deswegen suchte man damals nach einer praktischen Möglichkeit, die bisher genutzten Bruchzahlen durch Dezimalzahlen auszudrücken. Da es weder Taschenrechner noch Computer gab, kam dem französischen Geodäten Charles Heros die Aufgabe zuteil, eine Umrechnungstabelle zu erstellen, in der Bruchzahlen und ihre – zumindest angenäherten – Dezimalwerte verzeichnet sind. 1801 veröffentlichte er eine Liste mit allen Bruchzahlen zwischen 0 und 1, die einen zweistelligen Nenner haben. Damit hatte er erstmals die Folge F99 gefunden. Heros hatte erkannt, dass sich die Freshman-Summe dabei als überaus hilfreich erweist.
Wie so häufig in der Geschichte der Naturwissenschaften ging diese Veröffentlichung allerdings unter. 15 Jahre später hatte der britische Bierbrauer Henry Goodwyn eine ähnliche Eingebung: In seiner Freizeit widmete er sich gerne Zahlenspielen und erstellte ebenfalls Umrechnungstabellen – allerdings begnügte er sich nicht mit Brüchen, die einen zweistelligen Nenner haben, sondern berücksichtigte alle Bruchzahlen k⁄n mit n = 1, 2, … bis 1024. Nachdem er sein Ergebnis der britischen Gelehrtengesellschaft »Royal Society« vorgelegt hatte, machte der englische Geologe John Farey eine Besonderheit publik, die ihm in Goodwyns Liste aufgefallen war: Nämlich die fehlerhafte Addition von Bruchzahlen, die in den Trios von aufeinander folgenden Einträgen erscheint. Er veröffentlichte diese Feststellung ohne weitere Erklärung, die dann in einem französischen Journal landete. Als der renommierte Mathematiker Augustin-Louis Cauchy davon las, gelang es ihm schließlich, den Zusammenhang zu beweisen: In den Folgen Fn von Bruchzahlen sind benachbarte Trios immer durch die Freshman-Summe verbunden. Diese falsche Bruchrechnung wurde von da an als »Farey-Addition« bezeichnet und die Listen aller Bruchzahlen bis zu einem Nenner n heißen nun Farey-Folgen Fn.
Ein einfacher Algorithmus für Farey-Folgen
Aber wie kann man nun die Längen der Farey-Folgen (insbesondere die Länge von F100) bestimmen? Dafür kann man systematisch vorgehen und überlegen, wie sich die verschiedenen Fn aufbauen. Tatsächlich liegt dem Ganzen ein recht simpler Algorithmus zu Grunde:
- Starte mit F1 = {0⁄1, 1⁄1}
- Bilde die Farey-Summe aus den Folgengliedern: (0+1)⁄(1+1) = 1⁄2
- Füge das Ergebnis zur Folge hinzu – und zwar zwischen die beiden ursprünglichen Folgenglieder, um F2 = {0⁄1, 1⁄2, 1⁄1} zu erhalten.
- Wiederhole den Vorgang für alle Fn. Falls die Farey-Summe allerdings einen Bruch liefert, dessen Nenner größer ist als n+1, wird die Zahl nicht in die neue Menge Fn+1 eingefügt. Das ist zum Beispiel für F4, das aus F3 gebildet wird, der Fall: Die aufeinander folgenden Glieder 1⁄3 und 1⁄2 aus F3 liefern die Farey-Summe 2⁄5, die allerdings erst in F5 auftauchen darf.
Die Menge Fn enthält stets alle Elemente von Fn 1. Bei Fn kommen nur vollständig gekürzte Brüche der Form k⁄n hinzu. Der Längenunterschied von Fn und Fn−1 entspricht also der Anzahl aller natürlichen Zahlen zwischen 1 und n, die keinen gemeinsamen Teiler mit n haben. Diese lassen sich beispielsweise mit Hilfe der eulerschen Phi-Funktion zählen. Auf diese Weise lässt sich rekursiv bestimmen, wie viele Folgenglieder F100 besitzt, nämlich 3003. Damit ist die Aufgabe aus dem »The Ladies' Diary« gelöst.
Viel spannender als die Länge einer Farey-Folge sind die Anwendungsmöglichkeiten dieser Zahlen. Dass die Farey-Addition zweier Brüche a⁄b und c⁄d immer ein Ergebnis (a+c)⁄(b+d) liefert, das zwischen den beiden ursprünglichen Bruchzahlen liegt, kann man etwa nutzen, um eine irrationale Zahl durch einen Bruch anzunähern. Das lässt sich an einem Beispiel durchspielen: Angenommen, man möchte eine Zahl k⁄n mit n≤100 finden, die möglichst nah an 1/π (zirka 0,3183…) liegt. Dafür wählt man zunächst ein Intervall aus, in dem sich 1/π befindet, etwa [0, 1]. Dann kann man mit Hilfe der Farey-Addition das Intervall in zwei Teile stückeln: [0, 1⁄2] und [1⁄2, 1]. 1/π befindet sich im ersten Teil, [0, 1⁄2]. Diesen Bereich kann man wieder durch die Farey-Addition zu [0, 1⁄3] und [1⁄3, 1⁄2] aufspalten und so weiter verfahren. Auf diese Weise findet man für 1/pi; die Näherung 29⁄91 (zirka 0,3187…) – allerdings liegt 7⁄22 (etwa 0,3182…) näher am Kehrwert von Pi. Mit dem Farey-Verfahren findet man zwar nach jedem Iterationsschritt eine weitere Näherung für eine irrationale Zahl, aber nicht zwangsläufig eine bessere.
Ein weiteres Anwendungsgebiet der Farey-Summen findet sich beim Zeichnen bestimmter Fraktale, den appolonischen Netzen, benannt nach dem antiken Geodäten Apollonius von Perge. Das fraktale Muster ergibt sich, wenn man für jede Bruchzahl a⁄b einen Kreis mit Radius 1⁄2b2 um den Mittelpunkt (a⁄b, 1⁄2b2) in ein Koordinatensystem zeichnet. Wie sich herausstellt, werden sich die Kreise niemals schneiden – höchstens berühren. Und zwei Kreise berühren sich nur dann, wenn die ihnen zu Grunde liegenden Brüche in irgendeiner Farey-Folge benachbart sind. Das heißt: Indem man die Farey-Summe von zwei Brüchen mit sich berührenden Kreisen bildet, entsteht ein neuer Kreis, der genau zwischen den beiden anderen eingeklemmt ist. Wer hätte gedacht, dass aus einer offensichtlich falschen Berechnungsmethode etwas so Schönes entstehen kann?
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