Sex matters: Kein Sexdruck am Wochenende
»Seit zwei Monaten führen wir aus beruflichen Gründen eine Fernbeziehung. Wir vermissen den gemeinsamen Alltag und die Nähe sehr. Wir sehen uns fast jedes Wochenende und wollen beide, dass diese gemeinsame Zeit richtig schön wird und wir das nachholen können, was uns unter der Woche fehlt. Was können wir tun, damit die Wochenenden zu echten Höhepunkten unserer Beziehung werden?« (Jacqui*, 28, und Anton*, 32)
Fernbeziehungen sind anspruchsvoll. Die Wochenenden sollen die mehrtägige Trennung vergessen machen. Sich schön anziehen, frisieren, Parfüm auftragen – dann setzen beide ihr Sonntagsgesicht auf und planen besondere Aktivitäten. Viele Paare haben feierliche Rituale, mit denen sie am Freitagabend die gemeinsame Zeit einläuten, fand eine soziologische Studie der Universität Konstanz über Fernbeziehungen heraus.
Und der Sex? Körperliche Nähe wird zum Muss, um den Zärtlichkeitsspeicher wieder aufzufüllen und nachzuholen, was man unter der Woche versäumt hat. Alltag ist an den »heiligen« Wochenenden nicht erlaubt.
So war es auch bei Jacqui und Anton: Hausarbeit fanden sie unsexy. »Eigentlich versuche ich, das vorher zu erledigen«, sagte Jacqui. Anton sah das genauso. Wäsche waschen, putzen, einkaufen: Das quetschten beide in den Feierabend. Sie starteten gestresst ins Wochenende und mussten wie auf Kommando den Schalter umlegen, damit die gemeinsame Zeit möglichst schön wird.
Auf lange Sicht tut das der Beziehung allerdings nicht gut. Wenn man jede Woche im Stress ist, nur um freitags alles erledigt zu haben, und wenn sich immer eine Person das ganze Wochenende lang in der Rolle des Gastgebers fühlt: Das macht auf Dauer keinen Spaß.
Nähe entsteht auch beim gemeinsamen Wäschefalten
Es geht auch anders. Und zwar so: keine gezwungenen Highlights am Wochenende. Für Intimität und Sexualität eine Form finden, die auch von Montag bis Freitag funktioniert. Und Alltag am Wochenende darf sein – wenn er geteilt wird.
Für Nähe braucht es kein romantisches Restaurant. Sie entsteht auch beim gemeinsamen Wäschefalten. Von allein klappt das jedoch nicht. Wie viel Alltag im Wochenende vorkommen kann und wie er gestaltet wird, sind Fragen, die Kommunikation erfordern. Die meisten Paare, die eine Fernbeziehung führen, reden viel über Pläne für Restaurantbesuche, Konzerte oder Ausflüge. Das Gleiche sollte für alltägliche Dinge gelten: zu überlegen, wie man aus einer To-do-Liste schöne Momente machen kann. Einkaufen kann nämlich genauso verbindend sein wie Ausgehen.
»Aber wenn wir den Alltag ins Wochenende verlegen, haben wir weniger Zeit für Sex«, sagte Anton. Der kam ja schließlich während der Woche zu kurz. Für beide war die gemeinsame Sexualität zwingend mit der körperlichen Anwesenheit des anderen verbunden. Erotische Kommunikation hatten sie noch nicht ausprobiert. »Es würde sich komisch anfühlen, ihm Nacktfotos von mir zu schicke«, meinte Jacqui. »Ich kann mir nicht vorstellen, ihr erotische Nachrichten zu schreiben. Da würde mir nichts einfallen«, befürchtete Anton.
Ich verstehe, dass man nicht mal eben ein Nacktfoto verschicken will. Das ist eine große Hürde. Man weiß ganz genau, wie man aussieht, findet sich unsexy, weil das Licht nicht stimmt, und fragt sich vielleicht auch, was eines Tages mit dem Bild sonst noch passieren könnte. Solche Überlegungen sind durchaus vernünftig.
Doch erotische Kommunikation braucht keine eindeutigen Bilder. Erotik entsteht im Kopf. Es reicht, ein Foto von der Unterwäsche zu schicken, die man gleich anziehen wird, vom Schatten des eigenen Körpers oder von der Seife, mit der man sich wäscht.
Es geht nicht um die Mechanik der Genitalien, sondern um die Erotik im Kopf
Wenn ein Paar erotische Kommunikation ausprobieren möchte, schlage ich vor, mit Worten zu beginnen. Das ist wie ein kleines Workout, und es funktioniert super.
»Soll ich Fantasien aufschreiben?«, fragte Anton. Nein – das wäre für den Anfang zu schwierig. Für die meisten Menschen ist es einfacher, wenn sie sich in ihren ersten erotischen Botschaften auf reale Erlebnisse beziehen. Dann müssen sie nichts erfinden, sondern können schreiben: Liebling, ich habe gerade daran gedacht, wie du meinen Nacken geküsst hast, das war so ein schöner Moment. Oder: Ich denke gerade daran, wie du dich angefühlt hast, als ich am Sonntag neben dir aufgewacht bin.
Über gemeinsame Erlebnisse zu schreiben, gibt Sicherheit. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der Inhalt der Nachricht für die andere Person okay ist. So muss ich mir weniger Sorgen machen, dass der Partner das womöglich nicht gut finden könnte.
- Die Kolumne »Sex matters«
Was ist guter Sex? Was hält mich davon ab? Und wie schaffe ich es, meine Vorstellungen umzusetzen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller in dieser Kolumne (hier in Bild und Ton). Seit 2013 berät er in seiner Duisburger Praxis zu Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft. Auch Sie möchten ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: Liebe@spektrum.de
- Wer kann weiterhelfen?
Die Kolumne soll dazu anregen, über eigene Bedürfnisse und Grenzen nachzudenken. Sie ersetzt weder eine ärztliche Beratung noch das persönliche Gespräch mit einem Therapeuten. Wenn man allein nicht weiterweiß, kann es helfen, mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Therapie- und Beratungsangebote – hier eine Auswahl:
Eine Übersicht über Beratungsstellen geben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Organisation pro familia. Mit Sextra bieten Teams von pro familia Beratung per Onlineformular und Mail. Therapeutenlisten – geordnet nach Name oder Postleitzahl – führen etwa die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft sowie das Institut für Sexualtherapie. Jugendliche finden Hilfe auf sexundso.de.
Bei unserem zweiten Treffen erzählten Anton und Jacqui, dass sie sich jetzt regelmäßig unter der Woche schreiben. Sie fanden das gut, stellten aber auch fest, dass es noch Unsicherheiten gab – bei den Begriffen für die Genitalien. Diese Unsicherheit teilen viele Paare. Ich frage dann, welche Worte sie benutzen, wenn sie miteinander Sex haben, und sei es nur in Gedanken. Dann kann jeder für sich ausprobieren, ob es sich zum Beispiel besser anfühlt, »Penis« oder »Schwanz« zu schreiben.
Anton und Jacqui begannen, Alltag, Erotik und Intimität so miteinander zu verbinden, dass sie nicht mehr davon abhängig waren, an einem Ort zu sein. Es gab viele Wochentage, an denen sie erotische Botschaften austauschten. Es ging nicht um die Mechanik der Genitalien, sondern um die Erotik im Kopf. Sie entlasteten sich damit vom Sexdruck am Wochenende. »Es fühlt sich jetzt ganz anders an, wenn wir uns Freitagabend sehen«, sagt Anton. »Wir sind viel entspannter.« Gleichzeitig fühlen sich die Werktage besser an: Trotz der Distanz ist man sich nah.
Jetzt sind Sie dran:
Gönnen Sie sich einen Mini-Workout zur erotischen Kommunikation. Schreiben Sie eine erotische Nachricht an sich selbst. Was sind Momente, an die Sie sich erinnern? Was hat Ihnen Lust gemacht? Welche Details, welche Gerüche, Gefühle, Bilder sind in Ihrem Kopf? Teilen Sie diesen Moment mit sich selbst.
Schreiben Sie uns!
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