Kolumnen: Fingerübungen (Teil 1)
Immer nur Hirn und Neuro ist auf die Dauer auch fade. Tiefes Sinnen, Seelenqualen, Gefühlsattacken und Vernunftaufwallungen, der anämischen Gedanken fahle Blässe – irgendwann mal will gehandelt sein, »des Denkens ist genug gedacht, nun lasst uns endlich Taten sehen!«.
Des Menschen Hand, das Werkzeug der Gedanken – werfen wir doch mal einen Blick auf die Hand, auf die Finger im Besonderen, und schaun wir mal, was die Anatomen dazu zu sagen haben.
Es sind zweimal fünfe an der Zahl. Das ist zwar auf der einen Seite trivial und ein Segen fürs Dezimalsystem, auf der anderen Seite aber ein wenig verwunderlich, denn die frühesten Landwirbeltiere hatten zweimal sieben. Eigentlich sogar viermal sieben, denn Finger unterscheiden sich von Zehen nur dadurch, dass sie an den Händen sind, Hände und Füße aber wiederum nur dadurch, dass man auf den einen läuft und mit den anderen handelt. Wenn man nun stets auf allen vieren herumkraucht, ist es gar nicht so einfach, Finger von Zehen zu unterscheiden. Was ist das, an den Vorderpfoten einer Katze zum Beispiel? Eine bekrallte Zehe? Ein wehrhafter Finger?
Egal. Warum es bei den meisten heute lebenden Wirbeltieren zur Reduktion auf fünf Finger/Zehen pro Fuß/Hand kam, ist nicht so ganz klar. Aber ein Tetradeca- oder Quattuordecimalsystem (also ein Vierzehner-System) wäre ja auch eine arge Plage, allein schon von der Aussprache her.
Die Knochen, die in den Fingern sitzen, nennen die Anatomen die »Phalangen«. Jawohl, das kommt Ihnen zu Recht bekannt vor, das ist der Plural von griechisch »Phalanx«, und das heißt: die Streitmacht, die vorderste Reihe in einer Schlachtordnung. Das ist nun arg martialisch – als ob man mit den Händen nichts als Gewalttaten verüben könne. Noch dazu ist es Unsinn: Denn wenn man wirklich SO zuschlagen will, dass es wirkt und weh tut, dann macht man eine Faust und schlägt mit den Knöcheln auf den Gegner ein – aber die Knöchel sind kein Teil der Phalangen, der Finger, sondern die Köpfe der Mittelhandknochen.
Und falls wir uns dem Selektionsdruck der binären Technik wirklich so weit beugen wollen, dass wir unseren Körperbau an sie anpassen, so sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass andere uns schon weit voraus sind. Wahre Rindviecher, Hornochsen und Schafe (»Paarhufer«) sind fingertechnisch schon auf dem neuesten, binären Stand der Dinge: Drei ihrer Finger/Zehen sind verkümmert, auf den behuften zwei verbleibenden schreiten sie durch's Leben. Echte Esel sind sogar noch weiter. Die Pferde auch (»Unpaarhufer«). Die haben an jeder Hand und an jedem Fuß nur noch einen Finger, auf dessen behuften Spitzen sie einher galoppieren. Wir aber müssen uns vorläufig noch mit allen fünf Fingern herumschlagen. Und das machen wir jetzt.
Die fünf Finger einer Hand kann man schlicht durchnummerieren, was Medizinstudenten, die für jede Vokabel, die sie NICHT lernen müssen, dankbar sind, sehr entgegenkommt. Man kann’s aber auch bleiben lassen und sich ein wenig mit den Namen der Finger beschäftigen, denn – sehen Sie – eine Wunderwelt an Assoziationen und Sonderbarkeiten öffnet sich dem, der sich traut, den Begriffskosmos der Anatomen zu bereisen. Auf denn, machen wir gemeinsam ein paar terminologische und etymologische Fingerübungen! Sie sind, ganz im Sinne dieser Kolumne, nutzlos, aber schön.
Digitus primus, der erste Finger, der Daumen
Pollex, der Daumen heißt Pollex. Das ist lateinisch und heißt »Daumen«, womit dies eigentlich zu einer ziemlich kurzen Fingerübung würde, wäre da nicht die amüsante Tatsache, dass etwa 50 Prozent der Medizinstudenten (und auch mancher Arzt) den Daumen Pollux nennen. Das ist nun – kognitiv betrachtet – ein hochinteressantes Phänomen (… kommt man denn wirklich nie um diesen Neurokrempel herum?). Denn wenn man den Studiosus nun fragt, ob er, aus Symmetriegründen, den großen Zeh deshalb nun »Castor« nennen würde, erntet man im Allgemeinen vollständiges Unverständnis. Denn kaum ein Mensch kennt noch die Dioskuren, die Söhne des Zeus und der Leda, Castor und Pollux – dennoch müssen sie im kollektiven Unterbewusstsein noch präsent sein, denn wie käme sonst der Pollex zu dem penetranten »u«?
Castor und Pollux (griechisch: Polydeukes) sind am Nachthimmel im Sternbild der Zwillinge verewigt, denn Zwillinge waren sie. Unsterblich der Polydeukes, sterblich der Castor, und als jener starb, bat der andere Zeus, die Unsterblichkeit mit ihm teilen zu dürfen. Und seither, raunt der Mythos, liegt jeweils der eine für einen Tag im Grab und der andere lebt im Olymp und am anderen Tag tauschen sie die Rollen, tauschen Tod und Leben. Wunderschön, die Geschichte, und eigentlich viel zu schade, um vergessen zu werden. Und sie ist auch noch als Eselsbrücke zu missbrauchen! Castor und Polydeukes, das waren zwei, Zwillinge eben – und der Pollex, der Daumen, ist der einzige Finger, der nur zwei Fingerglieder hat. Alle anderen haben, wovon Sie sich leicht überzeugen können, drei Glieder.
Schade eigentlich, sehr, sehr schade.
Digitus secundus, der zweite Finger, der Zeigefinger
Index, der zweite Finger heißt Index, und Index heißt schon wieder »Zeiger«. Passt ja auch, denn der Index ist der Finger, von dem man kleinen Kindern beibringt, dass sie damit nicht auf Leute zeigen sollen. Mächtige Herren aber, so wie der Lehrer Lämpel hier, und vermutlich auch Ihr Chef, die verwenden ganz ungeniert den ausgestreckten Zeigefinger, um ihren Ausführungen Nachdruck zu verleihen.
Oder auch wieder nicht: Denn der Index ist zwar der Chef unter den Fingern, aber keineswegs der größte unter ihnen, das ist der Mittelfinger. Merken Sie sich also: Der Chef hat nicht unbedingt den längsten, aber den wichtigsten!
Mit diesem leicht unanständigen Bonmot beende ich mal diesen Beitrag – er wird sonst viel zu lang. Natürlich gibt es auch zu den übrigen drei Fingern noch Geschichten zu erzählen: aber die heb' ich mir fürs nächste Mal auf.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Nie ein Beitrag ohne Fußnote:
Auf der Internetseite www.fanatomic.de finden Sie – ganz umsonst – ein anatomisches Lernprogramm, unter anderem mit einem Modul zum Thema Hand. Vor einigen Jahren hab' ich das für Studierende der Medizin zusammengebastelt, aber vielleicht haben Sie ja auch Spaß daran. Nur ein wenig Zeit muss man sich nehmen, denn das Programm setzt auf interaktives Lernen.
Des Menschen Hand, das Werkzeug der Gedanken – werfen wir doch mal einen Blick auf die Hand, auf die Finger im Besonderen, und schaun wir mal, was die Anatomen dazu zu sagen haben.
Es sind zweimal fünfe an der Zahl. Das ist zwar auf der einen Seite trivial und ein Segen fürs Dezimalsystem, auf der anderen Seite aber ein wenig verwunderlich, denn die frühesten Landwirbeltiere hatten zweimal sieben. Eigentlich sogar viermal sieben, denn Finger unterscheiden sich von Zehen nur dadurch, dass sie an den Händen sind, Hände und Füße aber wiederum nur dadurch, dass man auf den einen läuft und mit den anderen handelt. Wenn man nun stets auf allen vieren herumkraucht, ist es gar nicht so einfach, Finger von Zehen zu unterscheiden. Was ist das, an den Vorderpfoten einer Katze zum Beispiel? Eine bekrallte Zehe? Ein wehrhafter Finger?
Egal. Warum es bei den meisten heute lebenden Wirbeltieren zur Reduktion auf fünf Finger/Zehen pro Fuß/Hand kam, ist nicht so ganz klar. Aber ein Tetradeca- oder Quattuordecimalsystem (also ein Vierzehner-System) wäre ja auch eine arge Plage, allein schon von der Aussprache her.
Die Knochen, die in den Fingern sitzen, nennen die Anatomen die »Phalangen«. Jawohl, das kommt Ihnen zu Recht bekannt vor, das ist der Plural von griechisch »Phalanx«, und das heißt: die Streitmacht, die vorderste Reihe in einer Schlachtordnung. Das ist nun arg martialisch – als ob man mit den Händen nichts als Gewalttaten verüben könne. Noch dazu ist es Unsinn: Denn wenn man wirklich SO zuschlagen will, dass es wirkt und weh tut, dann macht man eine Faust und schlägt mit den Knöcheln auf den Gegner ein – aber die Knöchel sind kein Teil der Phalangen, der Finger, sondern die Köpfe der Mittelhandknochen.
Die Finger selbst, »Digiti« geheißen, klappt man bei der Gewaltausübung sorgsam weg, denn sie werden für Zarteres gebraucht, zum Zeigen zum Beispiel. Denn»Digitus« heißt: der Zeiger, der (Zeige)finger. Mithin brach das Digitalzeitalter also schon mit den ersten Landwirbeltieren an – denn Fische haben keine Finger. Und das, was wir heute unter dem Wort »digital« verstehen, ist eigentlich eine Vorwegnahme eines evolutionären Ereignisses, das noch gar nicht stattgefunden hat: die weitere Reduktion der Zahl unserer Finger auf zwei nämlich, einer für die Null und einer für die Eins – wir sind ja schon mitten drin im »binären Zeitalter«.
Und falls wir uns dem Selektionsdruck der binären Technik wirklich so weit beugen wollen, dass wir unseren Körperbau an sie anpassen, so sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass andere uns schon weit voraus sind. Wahre Rindviecher, Hornochsen und Schafe (»Paarhufer«) sind fingertechnisch schon auf dem neuesten, binären Stand der Dinge: Drei ihrer Finger/Zehen sind verkümmert, auf den behuften zwei verbleibenden schreiten sie durch's Leben. Echte Esel sind sogar noch weiter. Die Pferde auch (»Unpaarhufer«). Die haben an jeder Hand und an jedem Fuß nur noch einen Finger, auf dessen behuften Spitzen sie einher galoppieren. Wir aber müssen uns vorläufig noch mit allen fünf Fingern herumschlagen. Und das machen wir jetzt.
Die fünf Finger einer Hand kann man schlicht durchnummerieren, was Medizinstudenten, die für jede Vokabel, die sie NICHT lernen müssen, dankbar sind, sehr entgegenkommt. Man kann’s aber auch bleiben lassen und sich ein wenig mit den Namen der Finger beschäftigen, denn – sehen Sie – eine Wunderwelt an Assoziationen und Sonderbarkeiten öffnet sich dem, der sich traut, den Begriffskosmos der Anatomen zu bereisen. Auf denn, machen wir gemeinsam ein paar terminologische und etymologische Fingerübungen! Sie sind, ganz im Sinne dieser Kolumne, nutzlos, aber schön.
Digitus primus, der erste Finger, der Daumen
Pollex, der Daumen heißt Pollex. Das ist lateinisch und heißt »Daumen«, womit dies eigentlich zu einer ziemlich kurzen Fingerübung würde, wäre da nicht die amüsante Tatsache, dass etwa 50 Prozent der Medizinstudenten (und auch mancher Arzt) den Daumen Pollux nennen. Das ist nun – kognitiv betrachtet – ein hochinteressantes Phänomen (… kommt man denn wirklich nie um diesen Neurokrempel herum?). Denn wenn man den Studiosus nun fragt, ob er, aus Symmetriegründen, den großen Zeh deshalb nun »Castor« nennen würde, erntet man im Allgemeinen vollständiges Unverständnis. Denn kaum ein Mensch kennt noch die Dioskuren, die Söhne des Zeus und der Leda, Castor und Pollux – dennoch müssen sie im kollektiven Unterbewusstsein noch präsent sein, denn wie käme sonst der Pollex zu dem penetranten »u«?
Castor und Pollux (griechisch: Polydeukes) sind am Nachthimmel im Sternbild der Zwillinge verewigt, denn Zwillinge waren sie. Unsterblich der Polydeukes, sterblich der Castor, und als jener starb, bat der andere Zeus, die Unsterblichkeit mit ihm teilen zu dürfen. Und seither, raunt der Mythos, liegt jeweils der eine für einen Tag im Grab und der andere lebt im Olymp und am anderen Tag tauschen sie die Rollen, tauschen Tod und Leben. Wunderschön, die Geschichte, und eigentlich viel zu schade, um vergessen zu werden. Und sie ist auch noch als Eselsbrücke zu missbrauchen! Castor und Polydeukes, das waren zwei, Zwillinge eben – und der Pollex, der Daumen, ist der einzige Finger, der nur zwei Fingerglieder hat. Alle anderen haben, wovon Sie sich leicht überzeugen können, drei Glieder.
Aber vielleicht ist es ja viel einfacher, vielleicht habe ich die ganze Geschichte von den Dioskuren umsonst erzählt und vielleicht haben Sie sie umsonst gelesen, denn die Wahrheit über das »u« könnte viel trivialer sein. Der große Zeh nämlich heißt auf Lateinisch »Hallux«, was wiederum »großer Zeh« heißt. Und womöglich schmeißen die Medizinstudenten ganz trivial dessen »u« mit dem »e« des Pollex durcheinander. Keine Spur von Dioskuren, kein Abglanz der Schönheit des alten Mythos also.
Schade eigentlich, sehr, sehr schade.
Digitus secundus, der zweite Finger, der Zeigefinger
Index, der zweite Finger heißt Index, und Index heißt schon wieder »Zeiger«. Passt ja auch, denn der Index ist der Finger, von dem man kleinen Kindern beibringt, dass sie damit nicht auf Leute zeigen sollen. Mächtige Herren aber, so wie der Lehrer Lämpel hier, und vermutlich auch Ihr Chef, die verwenden ganz ungeniert den ausgestreckten Zeigefinger, um ihren Ausführungen Nachdruck zu verleihen.
Vermutlich heißt der Zeigefinger bei den Chiromanten, den Handlesekünstlern, deshalb auch: »Digitus Iovis«, der »Jupiterfinger«. Jupiter war der oberste Gott der Römer – der »Cheffinger« also. Sehr passend.
Oder auch wieder nicht: Denn der Index ist zwar der Chef unter den Fingern, aber keineswegs der größte unter ihnen, das ist der Mittelfinger. Merken Sie sich also: Der Chef hat nicht unbedingt den längsten, aber den wichtigsten!
Mit diesem leicht unanständigen Bonmot beende ich mal diesen Beitrag – er wird sonst viel zu lang. Natürlich gibt es auch zu den übrigen drei Fingern noch Geschichten zu erzählen: aber die heb' ich mir fürs nächste Mal auf.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Nie ein Beitrag ohne Fußnote:
Auf der Internetseite www.fanatomic.de finden Sie – ganz umsonst – ein anatomisches Lernprogramm, unter anderem mit einem Modul zum Thema Hand. Vor einigen Jahren hab' ich das für Studierende der Medizin zusammengebastelt, aber vielleicht haben Sie ja auch Spaß daran. Nur ein wenig Zeit muss man sich nehmen, denn das Programm setzt auf interaktives Lernen.
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