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Kolumnen: Fingerübungen (Teil 2)

Was das alles mit Anatomie zu tun hat, mag sich mancher fragen, der sich durch den ersten Teil der Fingerübungen gequält hat. Um ehrlich zu sein – ziemlich wenig. Aber jetzt, bei den verbleibenden Fingern, hab ich tatsächlich auch ein paar dezidiert anatomische Anekdoten zu bieten. Also los!


Digitus tertius, der dritte Finger, der Mittelfinger

Tja … natürlich wird er auch »Medius« genannt, das ist aber fad, weil’s einfach nur »der Mittlere« heißt. Er heißt aber auch noch »Digitus medicinalis«, weil er eben der längste ist, und weil die Ärzte, wenn sie möglichst tief in Körperöffnungen eindringen wollen, eben diesen Finger verwenden. Allerdings: »impudicus« oder »infamis« heißt er auch (also »schamlos/ehrlos«), und ich muss Ihnen jetzt sicher nicht erzählen, auf Grund welcher uralten Geste er zu diesem Namen kam. Die Geste ist so alt, der Finger ist dermaßen in Verruf geraten, dass die Ärzte des Mittelalters anfingen, lieber den Ringfinger zu verwenden, um in Löchern zu sondieren und Salben aufzuschmieren. Und freilich ist dem schamlosen Mittelfinger auch eine Gottheit zugeordnet, Saturn nämlich (oder Chronos, falls Sie das griechische Pantheon bevorzugen). Saturn: Das war der, der seinen Vater kastrierte und seine Kinder fraß. Ein arger Stinkefinger also ...

Was will ich Ihnen also vom Mittelfinger erzählen, was Sie nicht schon wussten? Nun, vielleicht Folgendes.

Ich war lange, lange Jahre der Prosektor der Anatomie hier in Frankfurt. Das ist der, der sich darum kümmert, dass den Anatomen die Leichen nicht ausgehen. Zu diesem Zweck gibt’s Körperspenden: Man schenkt seinen Leichnam den Anatomen. Im Gegenzug versprechen die, nach ihren anatomischen Untersuchungen die Beisetzung auszurichten. Mancher will aber gar nicht beigesetzt werden. Einigen ist es schlicht egal, andere finden die Idee reizvoll, noch für eine ganze Weile am Stück oder in Teilen wohlkonserviert präsent zu bleiben. Nun ja, da können die Anatomen helfen (Fußnote 1).

Eines Tages rief eine nette, alte Dame an, die ihren Körper spenden wollte, Beisetzung war ihr egal. Sie machte ein diesbezügliches Testament, und ein paar Jahre später starb sie einen hoffentlich friedlichen Tod. Der Körper kam in die Anatomie. Ich hab – jetzt wird’s ein wenig gruslig – die Hände abgeschnitten, weil ich sie präparieren wollte. Das hab ich dann auch getan.

Und jetzt, damit die Pointe funktioniert, müssen Sie noch wissen, wie das eigentlich funktioniert, wenn man einen Finger, sei’s der mittlere oder ein anderer, ausstrecken will. Die Muskeln, die die Finger strecken, sitzen nämlich gar nicht in der Hand, sondern oben am Unterarm (Abb. 1 links). Die Sehnen der Fingerstrecker können Sie ja auf Ihrem Handrücken selbst deutlich sehen. Und als ich nun in der Hand der alten Dame unter die Sehnen dieser Fingerstrecker auf dem Handrücken guckte (was man eigentlich selten tut, weil man ja dort nichts weiter als Knochen vermutet), als ich nun darunterguckte, hatte ich ein kleines anatomisches, saturnisches Satori (Abb. 1 rechts; Fußnote 2): Da lag ein platter, ansehnlicher Muskel, der von der Handwurzel entsprang und dessen Sehne zum Mittelfinger zog. Nur zu diesem, nicht zu den übrigen Fingern.

Strecksehnen | Die Lithografie auf der linken Seite zeigt, wie die langen Strecksehen, die von den Muskeln des Unterarmes kommen, über den Handrücken ziehen. Die Muskeln, die man unter den Sehnen und zwischen den Mittelhandknochen sieht, haben mit dem Strecken der Finger nicht zu tun: es sind die »Zwischenknochenmuskeln«, die die Finger spreizen.
Auf der rechten Seite ist die Hand der netten Dame zu sehen. Die langen Strecksehnen des Mittelfingers und des Ringfingers werden von einem Spreizer auseinandergedrängt, sodass man darunterschauen kann. Und dort liegt ein kurzer, platter Muskelbauch, dessen Sehne (blau unterlegt) zum Mittelfinger zieht: »Musculus extensor digiti impudici«.
Ei der Daus. Das ist eine ziemlich seltene Variante. Man nennt sie »Musculus extensor digitorum brevis«, also »kurzer Fingerstrecker«. Am Fußrücken kommt so ein (Zehen)strecker immer vor, auf dem Handrücken so gut wie nie. Und wenn schon, dann gehen seine Endsehen zu mehreren Fingern, und selten nur zu einem. Und dann ausgerechnet nur zum Mittelfinger. »Musculus extensor digiti impudici« wäre ein passender Name, gar nicht schwer zu merken.

Den Namen der netten, alten Dame hingegen hab ich vergessen. Ich weiß nur noch, dass sie definitiv nicht »Effenberg« hieß.


Digitus quartus, der vierte Finger, der Ringfinger

Mein Lieblingsfinger. Weil man von ihm eine Geschichte erzählen kann, die zugleich anatomisch und magisch ist. Und weil er so viele Namen hat. Gehen wir sie mal durch. »Annularius« ist lateinisch für Ringfinger. »Goldfinger« heißt er aber auch – vielleicht wegen der Ringe, die golden sein können, vielleicht aber auch, weil er »goldig«, also irgendwie wertvoller ist als die anderen. Die Chiromanten nennen ihn »Sonnenfinger«, denn Sonne und Gold gehören ja zusammen. Und weil er die Rolle des »Digitus medicinalis« vom Mittelfinger übernommen hat (siehe oben), wird er manchmal auch als der »Arztfinger« oder gar als »Salbenfinger« bezeichnet. »Herzfinger« heißt er auch noch. Und – ganz seltsam – in vielen Sprachen hat er gar keinen Namen: Da heißt er der »namenlose Finger« (z. B. im Finnischen, Türkischen, Ungarischen und Russischen).

Wenn eine Sache namenlos ist, kann das zwei Gründe haben: Entweder man hat’s der Mühe nicht wert gefunden, ihr einen zu geben, weil die Sache es nicht wert ist. Oder aber das genaue Gegenteil ist der Fall: Die Sache ist so grandios, dass man sich scheut, ihr einen zu geben oder ihn auszusprechen. Das Paradebeispiel ist der Gott des alten Testaments: Wehe, wehe, wehe, wenn Sie »J…h…v…« sagen. Und diese magische, numinose Namenlosigkeit ist es wohl, die uns beim Ringfinger entgegentritt. Und außerdem: Warum trägt man den Ring, also das Symbol einer Sache, die einem am Herzen liegt (oder liegen sollte …), justament an diesem Finger? Woher kommt der Name »Herzfinger«?

Von den Ägyptern. Denn die glaubten, dass der vierte Finger auf kurzem und direktem Wege mit dem Herzen verbunden sei, weswegen man mit dem Ring die Kraft des Herzens magisch bündeln könne. Und sehen Sie: Die Ägypter hatten Recht! Mit der Magie vielleicht nicht, aber mit der Herzverbindung schon.

Ringfinger | Die Venen an der Basis des Ringfingers
Wenn Sie die Venen auf Ihrem Handrücken ein wenig stauen (eine Hand fest um den Unterarm legen und ein wenig »pumpen«, wie bei der Blutspende), oder wenn die Venen auf der Rückseite Ihrer Hand ohnehin gut sichtbar sind, dann sehen Sie, dass die größten Venen des Handrückens ihren Ausgang von der Wurzel des Ringfingers nehmen (bei den meisten Menschen zumindest). Und diese Venen des Handrückens wiederum fließen zu zwei großen Hautvenen zusammen, der Vena cephalica und der Vena basilica. Die sind (anders als die Venen der Haut anderswo am Körper, es sei denn, man hätte Krampfadern) unter der Haut oft gut sichtbar. Sie ziehen rumpfwärts, zur Innenseite des Oberarmes die eine, bis unter das Schlüsselbein die andere. Und erst dort, also ziemlich nah am Herzen, gehen sie in die Tiefe und verbinden sich mit den großen, inneren, von außen nicht sichtbaren Venen, die zum Herzen führen.

Voilà: Das ist sie, die Verbindung zum Herzen, das ist der magische Weg. Freilich gibt es auch eine venöse Verbindung des vierten Fußzehs zum Herzen. Aber sie ist von außen nicht so gut zu sehen. Und es wäre ja auch zu blöd, den teuren Ehering am Zeh zu tragen. Im Schuh sähe ihn ja keiner.


Digitus quintus, der fünfte Finger, der kleine Finger

Das geht schnell: Freilich heißt er im Lateinischen »Digitus minimus«, aber auch: »Auricularius« und im Französischen »Auriculaire«. Warum?

Bohren | Ein Kommentar, so denke ich, erübrigt sich. Keine Herabsetzung irgendeiner Person, übrigens: Ich bin es selbst.
Deshalb. »Auricularius« heißt »Ohrfinger«. Weil man sich mit ihm so herrlich im Ohr bohren kann. Weswegen man den Zeigefinger mancher Leute eigentlich auch den »Nasalis« nennen sollte. Aber auf die Idee ist bislang noch keiner gekommen.

So.
Alles über die Finger – und was nutzt es?

Genau: nichts. Zum Abschluss eine letzte, wahre Fingergeschichte. Zu mir ins Büro kam einstens ein Kollege aus der Rechtsmedizin, mit Verschwörermiene und einer Tupperdose. In der Dose war, wie wir Hessen sagen, »ein abber Finger«: Nagelglied und zweites Glied, dies aber in der Mitte durchtrennt. Den hatte jemand auf einem Autobahnparkplatz gefunden, zur Polizei getragen, die trug ihn in die Rechtsmedizin, und der Rechtsmediziner wiederum trug ihn zu mir. Die Polizei wollte wissen, welcher Finger das sei, sodass man, falls das nötig werden sollte, den ehemaligen Besitzer an der Amputation erkennen könne.

Es war kein Daumen, das konnten wir an den Sehnen erkennen, die beim Pollex ein wenig anders angeordnet sind als bei den übrigen Fingern. Aber jetzt: Index, Medius, Annularius oder Minimus? Digitus Iovis, impudicus, medicinalis oder Auricularius? Keine Ahnung. Die Endglieder sind alle gleich, und die Größe hilft nicht weiter, denn der kleine Finger eines skandinavischen Grobschmieds kann allemal die Ausmaße des Mittelfingers eines anämischen deutschen Akademikers erreichen. Wir haben es nicht herausbekommen.

Ist das nicht herrlich? Lauter nutzloses Wissen …


Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.


Fingergeschichten – und trotzdem Fußnoten? Natürlich!

(1) Die Gründe, die Menschen dazu bewegen, ihren Leichnam der Anatomie zu vermachen, sind vielschichtig. Der originellste – und zugleich grusligste – Grund, der mir in meinen zehn Jahren als Prosektor genannt wurde, war … die Furcht, lebendig begraben zu werden. Ich konnte, als Anatom, den beiden Damen, die diese Furcht äußerten, auf die Hand versprechen, dass sie nach Abschluss unserer anatomischen Untersuchungen und vor der Beisetzung mit hundertprozentiger Sicherheit tot sein würden. Garantiert. Die Damen waren’s zufrieden und haben uns ihre Körper vermacht.

(2) Satori: japanisch für »Erleuchtung«, »Einsicht«

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