Kolumnen: Forschung aus Spaß an der Freud'
Von Zeit zu Zeit wird es Zeit, die unerkannten Helden der Neurowissenschaften und ihre vergessenen Großtaten ins Rampenlicht zu stellen. Die Namen zu nennen, die das Nobelpreiskomitee nie im Munde führte, die Ergebnisse zu würdigen, die keinen Menschen interessierten. Denn das Vergessen, der dunkle Moloch, verschlingt alles, Unwichtiges und Irrelevantes zuerst. Aber ob’s wirklich unwichtig ist, das weiß man ja dann nicht mehr, man hat es ja vergessen. Also: Rettet die heroischen Kämpfer an den Nebenkriegsschauplätzen der Wissenschaftsgeschichte, rettet ihre Ergebnisse, die obskursten und abstrusesten zuerst, denn sie sind die allergefährdetsten.
Wohlan denn, die Rede sei von einem Fisch und seinem Forscher. Der Fisch zuerst. Es ist ein Neunaug’ – weil irgendein Schwachkopf (nicht unser Forscher!) die sieben Kiemenöffnungen auf der einen Seite zu den zwei Augen rechts und links dazu addierte. Auf der anderen Seite sind aber noch mal sieben Kiemenöffnungen – »Sechzehnauge« wäre also der passende Name, wenn man den Blödsinn konsequent betreiben wollte.
Jene Hinterzellen, so zeigte unser Forscher in seiner Dissertation, sind sensorische Zellen – sie schicken Ausläufer in die Hinterwurzeln von Hirn- und Rückenmarksnerven. Sie reagieren – das weiß man heute – auf Berührungen. Ungewöhnlich daran ist, dass diese Zellen im Zentralnervensystem liegen, denn fast alle anderen sensorischen Zellen fast aller anderen Wirbeltiere liegen außerhalb desselben. Wahnsinnig spannend, nicht? Und selbst wenn man jetzt noch weiß, dass auch wir Menschen noch etliche von diesen Zellen besitzen – sie liegen im Gehirn und messen den Spannungszustand unserer Kaumuskulatur –, selbst dann kann man eigentlich nur zähneknirschend zugeben, dass das eigentlich herzlich uninteressant ist.
Nein, dieser Forschung fehlt das Erotische, das Prickelnde, die Relevanz, der Eros. Richtig spannend hingegen ist das Sexualleben des Fisches, mit dem die Hinterzellen allerdings nichts zu tun haben. Neunaugen, Männlein und Weiblein, fressen sich im Meer als Parasiten an Fischen satt. Und dann, wenn sie der Eros überkommt, schwimmen sie heimwärts, in die murmelnden Bäche ihrer Geburt, ins Süßwasser also, um sich zu paaren und zu laichen. Zugleich mit dem Eros aber fasst sie der Thanatos, der Todestrieb, an: Denn während sie da so stromaufwärts wandern, um im Bachbett ihrer Geburt der Liebe zu frönen, schwinden ihnen Magen und Darm in dem Maße, in dem die Geschlechtswerkzeuge reifen. Selbst wenn sie fressen wollten: Sie könnten’s nicht mehr, mangels Magen – genauer: mangels Hohlraum in Magen und Darm, denn der wächst einfach zu. Dann paaren sie sich, lustvoll, wie man hofft, um schließlich erschöpft von Befruchtung und Eiablage den Hungertod zu sterben.
Sex, Liebe, Tod – wenn das mal kein Thema ist. Das muss sich auch unser Forscher gedacht haben, während er nachdenklich an seiner Zigarre sog. Er wandte sich von den Hinterzellen ab und dem Eros und dem Thanatos zu. Allerdings dem des Menschen.
Es war Sigmund Freud.
Postskriptum:
Alles, was hier steht, ist wahr, das Originalzitat von Freuds Publikation lautet:
Freud, Sigmund: Über den Ursprung der hinteren Nervenwurzeln bei Ammocoetes planeri.
Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, mathematisch-naturwissenschaftliche Classe, Band LXXV/III, 15ff., 1877.
Unbelegt ist die Unterstellung, dass Freud über die Beschäftigung mit dem Sexualleben der Neunaugen zur Theorie von Thanatos und Eros als antagonistischen Trieben des Menschen gelangte.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Wohlan denn, die Rede sei von einem Fisch und seinem Forscher. Der Fisch zuerst. Es ist ein Neunaug’ – weil irgendein Schwachkopf (nicht unser Forscher!) die sieben Kiemenöffnungen auf der einen Seite zu den zwei Augen rechts und links dazu addierte. Auf der anderen Seite sind aber noch mal sieben Kiemenöffnungen – »Sechzehnauge« wäre also der passende Name, wenn man den Blödsinn konsequent betreiben wollte.
Der Fisch ist insgesamt zigarrenförmig, das wird noch eine Rolle spielen. Er ist darüber hinaus überaus wohlschmeckend (wenn geräuchert), was im Folgenden aber keine Rolle spielt. Wenig appetitlich ist seine Lebensweise: Er verwendet sein zahnstarrendes Saugmaul, um sich an anderen Fischen festzusetzen, sie anzuraspeln und auszusaugen. Es gehört also schon ein gewisses Maß an Verschrobenheit, an Willen zum Obskuren und Abseitigen dazu, sich ausgerechnet diesen Fisch zum Forschungsthema zu wählen.
Nun, es geht immer noch ein wenig obskurer. Dieser Fisch besitzt in seinem Hirn und in seinem Rückenmark eine Reihe von Nervenzellen, die man als »Hinterzellen« bezeichnet. Sie sind Gegenstand des geballten Desinteresses von ca. 99,999 Prozent aller Hirnforscher. Was die allgemeine Öffentlichkeit angeht, kann man sicher noch einige Neuner nach dem Komma hinzufügen. Im Rahmen der Zielsetzung dieser Kolumne sind diese Zellen also hochrelevant!
Jene Hinterzellen, so zeigte unser Forscher in seiner Dissertation, sind sensorische Zellen – sie schicken Ausläufer in die Hinterwurzeln von Hirn- und Rückenmarksnerven. Sie reagieren – das weiß man heute – auf Berührungen. Ungewöhnlich daran ist, dass diese Zellen im Zentralnervensystem liegen, denn fast alle anderen sensorischen Zellen fast aller anderen Wirbeltiere liegen außerhalb desselben. Wahnsinnig spannend, nicht? Und selbst wenn man jetzt noch weiß, dass auch wir Menschen noch etliche von diesen Zellen besitzen – sie liegen im Gehirn und messen den Spannungszustand unserer Kaumuskulatur –, selbst dann kann man eigentlich nur zähneknirschend zugeben, dass das eigentlich herzlich uninteressant ist.
Nein, dieser Forschung fehlt das Erotische, das Prickelnde, die Relevanz, der Eros. Richtig spannend hingegen ist das Sexualleben des Fisches, mit dem die Hinterzellen allerdings nichts zu tun haben. Neunaugen, Männlein und Weiblein, fressen sich im Meer als Parasiten an Fischen satt. Und dann, wenn sie der Eros überkommt, schwimmen sie heimwärts, in die murmelnden Bäche ihrer Geburt, ins Süßwasser also, um sich zu paaren und zu laichen. Zugleich mit dem Eros aber fasst sie der Thanatos, der Todestrieb, an: Denn während sie da so stromaufwärts wandern, um im Bachbett ihrer Geburt der Liebe zu frönen, schwinden ihnen Magen und Darm in dem Maße, in dem die Geschlechtswerkzeuge reifen. Selbst wenn sie fressen wollten: Sie könnten’s nicht mehr, mangels Magen – genauer: mangels Hohlraum in Magen und Darm, denn der wächst einfach zu. Dann paaren sie sich, lustvoll, wie man hofft, um schließlich erschöpft von Befruchtung und Eiablage den Hungertod zu sterben.
Sex, Liebe, Tod – wenn das mal kein Thema ist. Das muss sich auch unser Forscher gedacht haben, während er nachdenklich an seiner Zigarre sog. Er wandte sich von den Hinterzellen ab und dem Eros und dem Thanatos zu. Allerdings dem des Menschen.
Es war Sigmund Freud.
Postskriptum:
Alles, was hier steht, ist wahr, das Originalzitat von Freuds Publikation lautet:
Freud, Sigmund: Über den Ursprung der hinteren Nervenwurzeln bei Ammocoetes planeri.
Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, mathematisch-naturwissenschaftliche Classe, Band LXXV/III, 15ff., 1877.
Unbelegt ist die Unterstellung, dass Freud über die Beschäftigung mit dem Sexualleben der Neunaugen zur Theorie von Thanatos und Eros als antagonistischen Trieben des Menschen gelangte.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
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