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Mäders Moralfragen: Forschung heiß aufgetischt

Nur nach guter Prüfung gelten wissenschaftliche Erkenntnisse als zuverlässig. Doch das dauert den Medien zu lange. Sie müssen berichten, solange das öffentliche Interesse anhält.
Wissenschaft im Dialog

Vor einigen Monaten habe ich in dieser Rubrik über Michal Kosinski berichtet. Der Psychologe von der Stanford University hat einen Algorithmus zur Gesichtserkennung dazu genutzt, aus Porträtfotos die sexuelle Orientierung der Porträtierten abzuleiten. Das gelang einigermaßen gut, und Kosinski fragte selbst, ob das nicht eine Gefahr darstelle für Menschen in Ländern, in denen Homosexualität bestraft werden kann. Nun meldet sich die Konkurrenz zu Wort: Zwei Analysten von Google, Margaret Mitchell und Blaise Agüera y Arcas, sowie der Psychologe Alexander Todorov von der Princeton University kritisieren die Schlussfolgerungen Kosinskis. Das lehrt mich wieder einmal, wie riskant es ist, eine neue Studie gleich für voll zu nehmen.

Nach Ansicht der drei Kritiker ist unklar, ob Kosinskis Algorithmus wirklich aus den Gesichtern etwas abgelesen hat, was manche vielleicht lieber verbergen möchten. Sie vermuten, dass er die sexuelle Orientierung nur ermitteln konnte, weil es die Menschen wollten oder zumindest zuließen. Denn Kosinski hat den Algorithmus mit Fotos von Dating-Websites trainiert, auf denen die Porträtierten angeben, an welchem Geschlecht sie interessiert sind. Man darf also annehmen, dass sich viele der Porträtierten gut überlegt haben, welche Fotos sie von sich veröffentlichen. Vielleicht haben sie dabei bewusst oder unbewusst bestimmte Stereotype für Hetero- oder Homosexualität erfüllt.

Was leistet der Algorithmus wirklich?

Lesbische Frauen tragen zum Beispiel seltener Lidschatten auf als heterosexuelle Frauen, wie Mitchell, Agüera y Arcas und Todorov in einer Umfrage unter 8000 Personen herausfanden. Allein mit diesem Kriterium könne man aus zwei Frauenfotos, von denen eins eine lesbische Frau zeigt, diese Frau mit einer Trefferquote von 63 Prozent auswählen. Kosinskis Algorithmus schaffte es in 71 Prozent der Fälle. Hat dieser Algorithmus womöglich Zusammenhänge wie den zwischen Lidschatten und sexueller Orientierung genutzt? Gut möglich, sagte Kosinski schon bei der Veröffentlichung seiner Studie. Er habe sich zwar bemüht, den Algorithmus auf Gesichtsmerkmale zu beschränken, die sich nicht ändern lassen, aber das gelinge nicht vollständig. Baseballkappen, die von lesbischen Frauen häufiger getragen werden als von heterosexuellen, wurden zum Beispiel nicht berücksichtigt. Aber wenn sie einen Schatten auf die Stirn warfen, kann sie der Algorithmus dennoch berücksichtigt haben.

Das letzte Wort ist in dieser Sache also noch nicht gesprochen. Die Gutachter des renommierten Fachmagazins "Journal of Personality and Social Psychology" haben Kosinskis Bericht zwar für die Veröffentlichung akzeptiert, so dass er die für die Wissenschaft übliche Erstkontrolle überstanden hat. Doch damit ist noch nicht gesagt, dass sich das Experiment in Wiederholungen bestätigt und kein Wissenschaftler mehr stichhaltige Einwände erheben könnte. Was am Ende als solide Erkenntnis bleibt, wird sich erst im Lauf der Zeit zeigen – das kann durchaus zwei, drei Jahre dauern.

Fachartikel werden oft widerlegt

Wie oft der neueste Fachartikel in die Irre führen kann, hat im Jahr 2017 ein Team um den Neurowissenschaftler François Gonon von der Université de Bordeaux ermittelt: Von 156 prominenten Studien aus der Medizin, über die englischsprachige Medien berichten, ließ sich jede zweite nicht – oder nicht in vollem Umfang – bestätigen. Über nachfolgende Metaanalysen, die einen Überblick zum jeweiligen Forschungsstand boten, berichteten die Medien hingegen kaum. "Das deutet auf eine verbreitete Ex-und-hopp-Haltung innerhalb des Journalismus hin. Es wird einmal über einen Effekt XY berichtet, der dann dem Vergessen überantwortet wird", schreibt der Medienwissenschaftler Markus Lehmkuhl vom Karlsruher Institut für Technologie in einem Kommentar.

Lehmkuhl weist selbst auf die Ironie hin, dass er über ein neuartiges Ergebnis schreibt, das noch nicht überprüft worden ist. Überraschungen sind eben interessant. Auch Kosinski und seine Kritiker konnten nicht warten: Kosinski und sein Mitautor Yilun Wang stellten ihre Studie schon einige Monate vor der offiziellen Veröffentlichung im Fachjournal ins Netz, und ihre Kritiker haben ihre Anmerkungen gar nicht erst an ein Fachjournal geschickt, sondern sie auf "Medium.com" veröffentlicht. Ich kann das verstehen: Das öffentliche Interesse an den Risiken der künstlichen Intelligenz ist groß, und einen Fachartikel zu schreiben und begutachten zu lassen, kann ein Jahr in Anspruch nehmen.

Keine Berichterstattung für die Ewigkeit

Sollen wir uns mit dieser überhitzten Darstellung abfinden? Die Wissenschaftsakademien haben vor einigen Jahren zu Recht davor gewarnt, dass Hypes der Wissenschaft schaden können. Aber Wissenschaft ist nun mal spannend, und das Publikum möchte mehr darüber erfahren. (Ob das mit dem Publikum wirklich stimmt, weiß ich nicht – ich nehme es für diesen Beitrag bloß an. Zweifeln lässt mich die Umfrage "Wissenschaftsbarometer", in der nur jeder Dritte sagte, dass er mit der Berichterstattung über Forschung zufrieden sei. Deshalb halte ich es für möglich, dass das Publikum Wissenschaft weniger heiß serviert bekommen möchte …)

Was also tun, wenn man auf die populären Darstellungen der "cutting edge research" nicht verzichten will? Man darf es nicht ex und hopp machen, sondern muss im Blick behalten, wie sich die Forschung weiterentwickelt. Berichterstattung verpflichtet! Algorithmen könnten dabei helfen, die Übersicht zu bewahren: Sie können melden, wenn irgendwo im Netz Einwände oder gar Widerlegungen zu einem Artikel veröffentlicht werden, den man verfasst hat. Sonst kann es selbst bei gutem Willen der Journalisten dauern, bis Medienberichte ergänzt oder korrigiert werden. So war es auch in diesem Fall: Mitchell, Agüera y Arcas und Todorov haben ihre Kritik schon Anfang Januar 2018 veröffentlicht, und das Magazin "Wirtschaftspsychologie aktuell" hat das Thema Anfang Februar aufgegriffen. Ich habe aber erst jetzt – über den Tipp eines schwulen Freundes – davon erfahren.

Die Moral von der Geschichte: Wer über Wissenschaft berichten will, braucht einen langen Atem.

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