Freistetters Formelwelt: Was Schwingungen verbergen
Wenn in Kinofilmen ein echt »wissenschaftliches« Labor gezeigt wird, dann kann man mit blubbernden Flüssigkeiten rechnen. Und wird vermutlich auch einen Bildschirm sehen, auf dem sich seltsam geformte Linien bewegen. Die Chancen stehen gut, dass sie durch diese Formel beschrieben werden können:
Diese beiden Gleichungen beschreiben so genannte »Lissajous-Figuren«, benannt nach dem französischen Physiker Jules Antoine Lissajous. Der hat im 19. Jahrhundert untersucht, was bei der Überlagerung von Schwingungen passiert – so wie vor ihm auch der Amerikaner Nathaniel Bowditch, der bei der Namensgebung aber übergangen wurde.
Man kann das leicht selbst ausprobieren. Dazu braucht man nur ein Pendel, das man in Schwingung versetzt. Es wird dann das tun, was Pendel eben so machen: in einer Ebene hin- und herschwingen. Während es das tut, gibt man dem Pendel nun einen Schubs in eine andere Richtung. Es wird dann gleichzeitig in zwei unterschiedlichen Ebenen schwingen und eine komplexe Figur nachfahren.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.
Macht man den Pendelweg sichtbar, erhält man eine Lissajous-Figur. Aus mathematischer Sicht beschreiben die beiden Formeln die Überlagerungskurve von zwei senkrecht zueinander stehenden Schwingungen. Mit φ wird die Phasenverschiebung zwischen den beiden Schwingungen beschrieben, A und B sind die jeweiligen Amplituden und ωx und ωy die Frequenzen.
Wie die Lissajous-Figur genau aussieht, hängt von der Phasenverschiebung und dem Verhältnis der Frequenzen ab. Insbesondere erhält man immer dann eine geschlossene Figur, wenn das Frequenzverhältnis rational ist. Nur dann ist die Bewegung entlang der Lissajous-Kurve periodisch; im nicht rationalen Fall ist sie nicht geschlossen und füllt im Lauf der Zeit ein Rechteck, dessen Größe durch die Amplituden vorgegeben wird.
Wie man einen Punkt im leeren Raum umkreist
Wer kein Pendel zur Hand hat, kann Lissajous-Figuren auch auf einem Oszilloskop sichtbar machen. Mit diesem Gerät kann unter anderem der zeitliche Verlauf elektrischer Spannungen dargestellt werden. Trägt man dort die Spannung aber nicht gegen die Zeit auf, sondern legt eine harmonische Wechselspannung an die Eingänge für x- und y-Achse an, bekommt man eine Lissajous-Figur, aus deren Form sich Frequenz und Phasenunterschied der beiden Spannungen ableiten lassen.
Lissajous-Figuren kann man auch im Weltall beobachten. Wenn Raumfahrzeuge nicht die Erde umkreisen, sondern direkt die Sonne, befinden sie sich oft in einem Orbit um einen der so genannten Lagrange-Punkte. Das sind Punkte im All, in denen in Bezug auf zwei Himmelskörper ein Kräftegleichgewicht herrscht. Das James-Webb-Weltraumteleskop etwa muss fern von Erde und Sonne betrieben werden. Nur wenn es nicht durch deren Infrarotstrahlung gestört wird, kann es seine sensiblen Messungen durchführen.
Der Lagrange-Punkt L2 ist der ideale Ort dafür. Er befindet sich immer genau auf der sonnenabgewandten Seite der Erde, 1,5 Millionen Kilometer entfernt. Das heißt, dass von L2 aus die Erde immer genau vor der Sonne steht und das Teleskop mit seinem Schutzschild gleich beide Himmelskörper auf einmal abschirmen kann. L2 ist aber ein instabiler Gleichgewichtspunkt; schon kleinste Störungen führen dazu, dass ein Objekt wieder aus diesem Punkt herausdriftet. Das würde, täte man nichts dagegen, die Lebensdauer eines Weltraumteleskops empfindlich verringern.
Zum Glück gibt es einen Weg, das Problem zu umgehen – und er hat mit der Entdeckung des Jules Antoine Lissajous zu tun. Bewegt man sich außerhalb der Bahnebene der Erde, kann man nämlich quasiperiodische Umlaufbahnen um den Lagrange-Punkt herum finden. Die Bewegung lässt sich als Überlagerung von senkrecht zueinander stehenden Anteilen beschreiben, und die Form der Umlaufbahn entspricht einer Lissajous-Figur. Um die zu sehen, muss man allerdings zu einem kleinen Trick greifen: Erkennbar ist die symmetrische Figur nur in einem mitrotierenden Koordinatensystem.
Schreiben Sie uns!
2 Beiträge anzeigen