Freistetters Formelwelt: Das Pendel und der Komet
Wer ein Studium absolviert, das auch nur am Rande ein bisschen mit Naturwissenschaft zu tun hat, wird früher oder später mit dem »mathematischen Pendel« konfrontiert. Dabei stellt man sich eine punktförmige Masse vor, die an einer masselosen Stange aufgehängt ist. Sie schwingt nur in einer Ebene hin und her, ohne dabei von Luftwiderstand oder anderen störenden Effekten der Realität behindert zu werden.
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In der echten Welt kann es so ein Objekt natürlich nicht geben; dafür lässt sich ein mathematisches Pendel aber viel leichter in Formeln fassen. Diese dann auch zu lösen, kann allerdings erstaunlich schwierig sein. Eine klassische Lösung für die Schwingungsdauer eines Pendels sieht zum Beispiel so aus:
Man erkennt, dass es – bei vorgegebener Schwerebeschleunigung g – allein von der Länge l abhängt, wie lange das Pendel für eine Schwingung braucht. Die Formel ist jedoch nur eine Näherungslösung für den Fall kleiner Auslenkungen. Für beliebig große Amplituden lässt sich die Bewegungsgleichung eines Pendels nicht mehr exakt lösen. Das hat mich während meines Studiums durchaus überrascht: Ich hatte nicht damit gerechnet, dass etwas so Simples wie ein Pendel so komplex sein kann.
Tatsächlich habe ich es später sogar bei der Definition des wissenschaftlichen Konzepts von »Chaos« wieder getroffen. Ein einfaches Pendel kann zwei prinzipiell unterschiedliche Arten der Bewegung durchführen. Es kann hin- und herschwingen oder, wenn man es mit ausreichend Energie anschubst, einen vollständigen Kreis beschreiben. Die Grenze zwischen den beiden Zuständen wird »Separatrix« genannt, und eine chaotische Bewegung findet immer dann statt, wenn sie überschritten wird. Beispielsweise wenn ein Pendel zwischen dem schwingenden und dem rotierenden Zustand wechselt, weil von außen eine Kraft wirkt.
Im Lauf meiner wissenschaftlichen Arbeit habe ich das Pendel schätzen gelernt und immer wieder gerne mit den entsprechenden mathematischen Gleichungen herumgespielt. Wenn man etwa die chaotische Bewegung der Himmelskörper verstehen will, kommt man ohne sie nicht aus. Meine Lieblingsgeschichte zur Pendelmathematik stammt aus dem Jahr 1755: Da hat der französische Uhrmacher Jean André Lepaute das Buch »Traite d'horlogerie« veröffentlicht.
Das größte (mathematische) Pendel der Welt
Ebenfalls an der Arbeit beteiligt, wenn auch nicht als Autorin aufgeführt, war Nicole-Reine Lepaute, seine Frau. Von ihr stammt insbesondere eine Tabelle am Ende des Werks, aus der man die Schwingungsdauer unterschiedlich langer Pendel ablesen kann beziehungsweise die für eine gewünschte Schwingungsdauer nötige Länge. Will man eine Uhr bauen, ist das sicherlich relevantes Wissen. Nicole-Reine Lepaute ging mit ihrer Arbeit aber weit über das Nützliche hinaus; der letzte Eintrag der Tabelle beschreibt ein Pendel, das für eine Schwingung eine Stunde benötigt und dafür zirka 12 000 Kilometer lang sein muss.
Es scheint, als hätte sie einfach aus Spaß an der Mathematik gerechnet. Zumindest in diesem Fall; denn später hat sie sich durchaus mit praktischer Forschung beschäftigt. Gemeinsam mit dem Mathematiker Alexis Clairaut und dem Astronomen Jérôme Lalande berechnete sie die von Jupiter und Saturn auf den Halleyschen Kometen ausgeübten gravitativen Störungen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der Komet einige Wochen später auftauchen würde, als man vorher dachte, und lagen damit absolut richtig.
Diese Anwendung der »Störungsrechnung« war ein bemerkenswertes Resultat, und Lepautes Beitrag können wir nur dank Lalande würdigen. Clairaut wollte die Arbeit einer Frau nicht anerkennen; der Astronom dagegen hatte damit keine Probleme und erklärte explizit, dass man die Aufgabe ohne die Fähigkeiten von Lepault nicht hätte lösen können. Manchmal muss man als Frau den Männern eben zeigen, wo das Pendel hängt!
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