Freistetters Formelwelt: Der dreckige Rest
Stellen Sie sich vor, Sie gehen zum Wochenmarkt und kaufen Eier. Auf dem Weg nach Hause werden Sie von einem Auto auf dem Zebrastreifen fast überfahren, und vor lauter Schreck fällt Ihnen die Tasche mit den Eiern zu Boden. Der Autofahrer möchte Ihnen den Schaden ersetzen und fragt, wie viele Eier denn in der Tasche waren. Als Strafe für sein rücksichtsloses Verhalten verweigern Sie die direkte Antwort – sondern stellen ihm eine Rechenaufgabe.
Wenn man immer zwei Eier auf einmal aus der Tasche nimmt, bleibt am Ende eines übrig. Wenn man die Eier in Dreiergruppen auspackt, bleiben am Ende zwei Stück liegen. Packt man immer vier auf einmal aus, bleiben drei in der Tasche; greift man sich jeweils fünf Eier, bleiben vier liegen, und beim Auspacken in Sechsergruppen bleiben fünf übrig. Nur dann, wenn man immer sieben Eier auf einmal auspackt, bleibt am Ende keines mehr in der Tasche. Wenn der Autofahrer Ahnung von Mathematik hat, kann er mit dieser Information berechnen, wie viel Schaden er angerichtet hat.
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Diese Situation ist natürlich höchst konstruiert. Sie stellt aber ein sehr altes mathematisches Problem dar. Es geht dabei um so genannte simultane Kongruenzen. In mathematischer Sprache kann man das Rätsel so formulieren:
Gesucht ist eine Zahl n – beziehungsweise im Fall der Eier die kleinste Zahl n –, die diese Gleichungen erfüllt. Zwei ganze Zahlen a und b heißen »kongruent modulo m« wenn bei der Division von a durch m der gleiche Rest bleibt wie bei der Division von b durch m. 5 und 11 etwa sind kongruent modulo 3, da bei beiden Divisionen ein Rest von 2 bleibt. Die sechs Gleichungen suchen also eine Zahl n, die mit 1 kongruent modulo 2 ist, mit 2 kongruent modulo 3, und so weiter.
Der chinesische Restsatz
Wie man ganze Zahlen dividiert und was man mit dem Rest anstellt, hat die Mathematik schon sehr früh beschäftigt. Das Beispiel der Eier wird oft die »Eieraufgabe des Brahmagupta« genannt. Der im Jahr 598 geborene indische Mathematiker spielt in der Geschichte der Wissenschaft tatsächlich eine wichtige Rolle. In seinem Werk »Brahmasphutasiddhanta« wird das erste Mal die Null als Zahl im modernen Sinn behandelt. Schon davor wurde sie als Platzhalter benutzt, doch Brahmagupta war der Erste, von dem wir wissen, dass er sie als gleichberechtigte Zahl benutzt und Rechenregeln für ihre Verwendung angegeben hat.
Neben vielen anderen Themen hat er sich auch mit Astronomie beschäftigt und mit den Umläufen der Planeten. Bei solchen Fragestellungen und insbesondere wenn man es mit kalendarischen Zyklen zu tun hat, kommt man ohne die Modulo-Arithmetik – wie wir sie heute nennen – nicht aus. Deswegen findet man die Frage nach den Eiern auch dort; allerdings als rein zahlentheoretisches Problem. Die Rahmenhandlung der Eier wurde erst später in diversen Lehrbüchern und Texten aus didaktischen Gründen hinzugefügt und auf verschiedenste Weise variiert. Manchmal ist zum Beispiel die Zahl der in der Tasche verbleibenden Eier immer gleich 1.
Man kann das System der sechs Gleichungen durch kreatives Ausprobieren lösen – oder aber den so genannten chinesischen Restsatz verwenden. Der hat nichts mit der Frage zu tun, wie man die Reste nach einem Besuch im Asia-Lokal verteilt – sondern beschäftigt sich genau mit der Frage der Lösung simultaner Kongruenzen. Benannt ist er nach dem chinesischen Mathematiker Sun Zi, in dessen Buch »Sūn Zǐ Suànjīng« er schon im 3. Jahrhundert formuliert wurde.
Wendet man ihn auf unser Problem an, dann wird der rücksichtslose Autofahrer am Ende ganze 119 Eier ersetzen müssen. Das ist die kleinste Zahl n, für die alle sechs Gleichungen simultan erfüllt sind. In der angewandten Mathematik wird der chinesische Restsatz allerdings nicht für die Berechnung kaputter Eier verwendet, sondern vor allem in der Kryptografie. Was in der modernen Welt auch deutlich praxisnäher ist als der Kauf von mehr als 100 Eiern …
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