Freistetters Formelwelt: Ordnung im Chaos
Die sekundengenaue Vorhersage einer Sonnenfinsternis ist aus zwei Gründen möglich. Erstens: Die Bewegung der Himmelskörper folgt einem Naturgesetz. Zweitens: Wir sind in der Lage, dieses Naturgesetz mathematisch zu beschreiben. Dadurch können wir die Bewegung von Sonne, Erde und Mond auch für die Zukunft berechnen.
Bei Planeten erscheint dieser Prozess noch recht einfach – obwohl es durchaus eine wissenschaftliche Revolution war, als Isaac Newton die Bewegung von Himmelskörpern in mathematische Gesetze fassen und erklären konnte. Was aber, wenn man es nicht mit einer Hand voll Planeten zu tun hat, sondern mit einer unvorstellbar großen Anzahl winziger Atome oder Moleküle? Kann man auch deren Bewegungen vorhersagen?
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Ja und Nein. Einzelne Teilchen lassen sich im Rahmen der Quantenmechanik durchaus beschreiben. Aber wenn man es mit einer großen Anzahl davon zu tun hat, wird es schwierig. Ein Kubikzentimeter Luft enthält ein paar Dutzend Trillionen Stickstoffmoleküle, ein paar Trillionen Sauerstoffmoleküle und dazu kommt noch der ganze Rest an Gasen, der unsere Atmosphäre ausmacht. Es erscheint definitiv unmöglich, die Bewegung all jener Teilchen zu beschreiben und vorherzusagen. Trotzdem verstehen wir recht gut, wie sich Gase verhalten und können dafür zum Beispiel diese Formel verwenden:
Das ist eine Formulierung der »Thermischen Zustandsgleichung idealer Gase«, die auch oft die »allgemeine Gasgleichung« genannt wird. Sie beschreibt, wie der Druck p, das Volumen V, die Teilchenzahl N und die Temperatur T eines Gases zusammenhängen – verknüpft mit der Boltzmann-Konstante kB). Bleibt etwa die Menge an Teilchen und die Temperatur konstant, dann gilt das auch für das Produkt aus Druck und Volumen. Oder anders gesagt: Erhöht man den Druck auf eine Gasmenge, dann verkleinert sich das Volumen; verringert man den Druck, dann dehnt es sich aus (das ist das »Boyle-Mariotte-Gesetz«).
Die Berechenbarkeit des Unberechenbaren
Man kann diese und ähnliche Gesetzmäßigkeiten deswegen formulieren, weil es zwar praktisch unmöglich ist, exakt zu beschreiben, was jedes einzelne Teilchen eines Gases tut. In Summe und mit entsprechenden statistischen Methoden kann man aber durchaus vernünftige Aussagen treffen. Man kann zum Beispiel den Druck, der in einer Gasflasche herrscht, durch die Stöße beschreiben, die zwischen den Teilchen und der Wand des Behälters stattfinden. Wann, wo und wie ein einzelnes Gasmoleküle auf die Innenseite der Flasche trifft, lässt sich nicht vorhersagen. Aber in Summe wird es umso mehr Stöße geben, je schneller sich die Teilchen bewegen, und da ihre Geschwindigkeit von der Temperatur abhängt, lassen sich mit den Methoden der statistischen Physik entsprechende Beziehungen aufstellen.
Man übersieht leicht, wie erstaunlich es ist, dass man mathematische Gesetze aufstellen kann, die das Verhalten eines Gases beschreiben, obwohl es aus unzähligen Teilchen besteht, deren Bewegung nicht präzise fassbar ist. Einer, dem das aber sehr wohl bewusst war, war der amerikanische Sciencefiction-Autor und promovierte Biochemiker Isaac Asimov. In seinem bekannten »Foundation«-Zyklus schuf er die fiktive Wissenschaft der »Psychohistorik«. Im Buch wird sie vom Mathematiker Hari Seldon entwickelt, der damit in der Lage ist, sehr exakte Voraussagen über das zukünftige Verhalten großer Menschenmengen zu machen. Zum Beispiel über den Untergang des galaktischen Imperiums, womit die Handlung der Geschichte startet.
Asimov hat sich bei seiner fiktiven Wissenschaft von der realen Gaskinetik inspirieren lassen. Was ein einzelner Mensch tun wird, lässt sich nicht vorhersagen. Aber wenn die Menge groß genug ist, sind exakte Aussagen möglich. Zumindest in der Welt der Sciencefiction. Wie sehr sich die Realität an die Fiktion annähern kann, wird sich noch zeigen.
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