Freistetters Formelwelt: Die lasche Schwerkraft
Wir alle sind stärker, als wir denken. Selbst die faulste Couchpotato hat erstaunliche Kräfte, wenn man genauer darüber nachdenkt. Und wer das nicht glaubt, soll einfach mal kurz in die Luft springen. Selbst wenn man dabei nicht den aktuellen Hochsprung-Weltrekord bricht, wird man es vermutlich schaffen, sich zumindest ein kleines Stück vom Boden abzuheben.
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Was höchst beeindruckend ist, denn unserer Körperkraft wirkt hier die Gravitationskraft der gesamten Erde entgegen. Die ist immerhin ein Planet mit einem Durchmesser von gut 12 700 Kilometern und einer Masse von fast 6 Trilliarden Tonnen. Und sie ist trotzdem nicht in der Lage, uns am Luftsprung zu hindern.
Wie schwach die Gravitationskraft ist, kann man noch besser an einem anderen Beispiel zeigen, und mit dieser Formel:
Schauen Sie sich mal um. Haben Sie vielleicht irgendwo eine Notiz mit einem Magneten befestigt? Wenn ja, dann wird der Zettel durch die elektromagnetischen Kraft gehalten, deren Stärke durch diese Formel angegeben wird. Sie beschreibt die so genannte Feinstrukturkonstante α, eine dimensionslose Zahl, die von den fundamentalen Konstanten π, der Lichtgeschwindigkeit c, der Elementarladung e und der elektrischen Feldkonstante ε0 abhängt. Ihr numerischer Wert beträgt etwa 1/137, und diese Zahl beschreibt, wie stark elektrisch geladene Teilchen miteinander wechselwirken.
Aber zurück zum Notizzettel: Der hängt einfach vor sich hin, Tag und Nacht, Woche für Woche, Jahr für Jahr – so lange, bis Sie den Magneten entfernen. Die elektromagnetische Kraft ist in der Lage, ihn dauerhaft dort zu halten, wo Sie ihn haben wollen. Oder anders gesagt: Der kleine Magnet ist stärker als die gesamte Erde mit ihrer Gravitationskraft, die ja die ganze Zeit über am Notizzettel zieht und ihn auf den Boden fallen lassen möchte.
Gravitation und Elektromagnetismus werden beide mit dem Quadrat des Abstands schwächer und lassen sich daher in ihrer Stärke gut vergleichen. Berechnet man das genau, dann kommt zu dem Ergebnis, dass die elektromagnetische Kraft eine Sextillion (eine Zahl mit 36 Nullen) Mal stärker ist als die Gravitation. Das ist ein absurd großer Unterschied, und der bereitet der Physik seit langer Zeit Probleme.
Das Hierarchieproblem
Denn eigentlich sollten sich solche fundamentalen Parameter nicht so massiv unterscheiden. Dass es trotzdem so zu sein scheint, ist als »Hierarchieproblem« bekannt. Eine Lösung dafür gibt es noch nicht. Aber natürlich diverse Vorschläge, die alle ziemlich spektakuläre Aussagen über das Universum treffen. Hypothesen wie die Stringtheorie gehen beispielsweise davon aus, dass es im Kosmos mehr als nur drei Raumdimensionen gibt. Dass wir die zusätzlichen Dimensionen nicht wahrnehmen können, liegt nur daran, dass sie enorm klein sind.
Wir müssten weit kleiner werden als ein Elementarteilchen, um diese »anderen« Richtungen im Raum sehen zu können. Wenn die Gravitationskraft in der Lage ist, sich in all diese anderen Richtungen auszubreiten – es könnten laut Stringtheorie bis zu zehn Extradimensionen sein –, wir aber nur die drei üblichen wahrnehmen können, dann sehen wir die Gravitation quasi verwässert. In Wahrheit wäre die Gravitation viel stärker und ähnlich stark wie der Elektromagnetismus.
Ob das wirklich so ist, wissen wir nicht. Bis jetzt hat die Physik keine experimentellen Belege für die Existenz von Extradimensionen gefunden. Doch es bleibt die Tatsache der schwachen Gravitation. Im Alltag kommt sie uns stark vor, was aber nur daran liegt, dass wir ständig in der Präsenz einer so großen Masse wie der der Erde leben. Es gibt aber noch viel stärkere Kräfte, und wir haben bei Weitem noch nicht verstanden, warum das so ist. Dazu muss man nur einen Blick auf den Zettel werfen, der vom Magneten gehalten wird. Oder ab und zu ein wenig auf und ab hüpfen.
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